Essen. Die Flüchtlingswelle seit 2015 machte Syrer zur drittgrößten Zuwanderergruppe in der Stadt. Eine Studie zeigt, woran viel guter Wille scheitert.
Sie hatten eine wahre Odyssee hinter sich, aber wo in Deutschland die Flucht aus der syrischen Heimat enden sollte, das wusste die kleine Familie aus Aleppos Norden damals ganz genau: Stuttgart oder Essen, denn dort, so sagten sie, lebten doch schon so viele Landsleute. Tatsächlich reißt hier die Zuwanderung aus dem kriegsgeschundenen Land seit Jahren nicht ab: Nicht weniger als 15.198 Syrerinnen und Syrer haben inzwischen ihr neues Zuhause zwischen Karnap und Kettwig gefunden – und bilden damit nach Türken und Polen die drittgrößte nationale Gruppe. Kein Wunder, dass die Stadt wissen will: Wie ticken die neuen Nachbarn?
Antwort darauf gibt eine inzwischen ausgewertete, großangelegte Studie aus dem Sommer vergangenen Jahres, als die Stadt 8410 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte syrische Landsleute kontaktierte, um ihnen eine Teilnahme an der anonymen Umfrage nahezulegen. Hernach staunte man nicht schlecht, dass das Echo deutlich positiver ausfiel, als anfangs vermutet: 29 eigens rekrutierte Interviewer des beauftragten Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) hangelten sich am Ende mit 1520 Syrern durch einen Katalog von 108 Fragen.
Die Erkenntnis: Guter Wille allein reicht nicht, um wirklich „anzukommen“
Und nun haben die Verantwortlichen es Schwarz auf Weiß: Nicht nur die Willkommens-Begeisterung hierzulande ist verflogen, auch manch große Erwartung der Neuankömmlinge musste längst der ernüchternden Erkenntnis weichen, dass guter Wille allein nicht reicht, um in der neuen Heimat Essen wirklich „anzukommen“.
Jeder elfte Ausländer ein Syrer
Unter den knapp 589.000 Einwohnerinnen und Einwohnern in Essen finden sich etwa 103.000 Nichtdeutsche und weitere 64.000 mit einem zweiten Pass. Zu den am stärksten vertretenen Nationalitäten haben sich die Syrer binnen weniger Jahre auf Platz 3 vorgeschoben. An erster Stelle stehen die Türken (23.738, Anteil von 14,3 Prozent), gefolgt von 20.653 Polen (12,5 Prozent). Doch während diese beiden Gruppen zahlenmäßig zuletzt weitestgehend stabil blieben, wächst die syrische Community rasant. Als die Studie im Sommer 2020 erstellt wurde zählte sie knapp 14.000 Personen, jetzt sind es 15.198, ein Anteil von 9,2 Prozent.Auf den Plätzen vier bis zehn der Statistik: 8211 Iraker, 6483 Personen aus Serbien/Kosovo/Montenegro, 5714 Libanesen, 5655 Afghaner, 5458 Rumänen, 5088 Russen, 4728 Marokkaner.(Quelle: Stadt Essen, Amt für Statistik, Stadtforschung und Wahlen, Stand 31. März 2021)
Immerhin, diese zentrale Erkenntnis durchzieht die Studie: Die Syrer sind zum allergrößten Teil lernwillig und zugewandt, suchen Arbeit statt Almosen, wollen sich bilden und nicht einigeln. Und doch gibt es hier und da auch deutliche Anzeichen von Abschottung, die man auf städtischer Seite mit Sorge betrachtet. Hier ein paar Schlaglichter der wissenschaftlichen Studie, die nach Ansicht des auch für Integration zuständigen NRW-Familienministers Joachim Stamp „Pioniercharakter hat und ihresgleichen sucht“. Und die zeigt, „dass viel erreicht worden ist, wir aber noch nicht da angekommen sind, wo wir hinwollen“:
Die syrische „Community“: Gut drei Viertel kamen als Flüchtlinge
Ein Land, eine homogene Gemeinde – so einfach ist es mit den Syrern leider nicht: Die ethnische und kulturelle Vielfalt der arabischen Republik spiegelt sich auch in Essen wieder: Knapp ein Viertel sind nach eigener Definition Kurden, jeder Elfte spricht kein Arabisch, ebensoviele haben Probleme, die eigene Muttersprache zu lesen und zu schreiben, 87 Prozent sind Muslime, 6 Prozent Christen.
Für rund 77 Prozent der hiesigen Syrer ist Essen – zumindest vorläufige – Endstation einer Flucht. Weitere 16 Prozent kamen im Zuge der Familienzusammenführung als Ehepartner, Eltern oder Kinder nach. Und gerade mal vier Prozent reisten einst fürs Studium oder eine Ausbildung ein.
Trotz eines befristeten Aufenthalts-Status: gekommen um zu bleiben
Die allermeisten Syrer verfügen nur über ein befristetes Aufenthaltsrecht in Deutschland. Den sogenannten „subsidiären“ Schutz erhalten Personen, denen im Rahmen des Asylverfahrens zwar weder der Flüchtlingsschutz noch Asylrecht zuerkannt wurde, denen im Herkunftsland aber ein „ernsthafter Schaden“ droht, etwa durch einen Krieg oder Bürgerkrieg, so wie in Syrien nach wie vor der Fall.
Eine Rückkehr in die Heimat ziehen die allerwenigsten in Betracht, jeder Fünfte immerhin möchte in eine andere Gegend in Deutschland ziehen, zwei Drittel aber in Essen bleiben. Eine mögliche Ausreisepflicht ist – sofern sich die Betroffenen an Recht und Gesetz halten – wohl eher theoretischer Natur. Denn die unsichere Lage in Syrien und die Aussicht auf verfestigte soziale Bindungen, womöglich auch einen Job, beschert ihnen in der Praxis vermutlich irgendwann das Bleiberecht.
Nur sechs Prozent leben noch in Gemeinschafts-Unterkünften
Eigene vier Wände – für 85 Prozent der Essener Syrer ist das bereits Alltag. Nur sechs Prozent leben noch in Gemeinschafts-Unterkünften, zu denen auch Studentenwohnheime gezählt werden. Unter den Alleinerziehenden und Ein-Personen-Haushalten ist die Zufriedenheit mit der Wohnsituation am größten. Bei Familien mit Kindern und den Bewohnern der Heime hält sich die Begeisterung wegen enger Wohnverhältnisse und Mängeln eher in Grenzen.
Fast die Hälfte der Syrer hat weitere Familienangehörige in Essen, was laut Studie auf eine „Kettenmigration“ hindeutet: Bevorzugt werden Wohnorte, wo Verwandte oder Freunde leben, weil man sich wohler fühlt und die Eingewöhnung leichter fällt. Wohl auch deshalb ist die syrische Community noch deutlich in Bewegung: Allein im vergangenen Jahr gab es 2157 Zuzüge nach Essen, so viele wie von keiner anderen Nationalität. Dem gegenüber standen aber auch 1065 Wegzüge.
Deutsche Sprache, schwere Sprache – ein Drittel versteht nur das Nötigste
Wer sich hier eine neue Heimat sucht, kommt an der deutschen Sprache kaum vorbei, vor allem, wenn es darum geht, einen Job zu bekommen und Geld zu verdienen. Doch noch hapert es bei vielen sehr mit den Deutsch-Kenntnissen: 27 Prozent der Befragten kommen nach eigener Beurteilung beim Verstehen sehr oder eher schlecht zurecht, für sogar 35 Prozent gilt dies beim Sprechen. Unter Frauen, gering Gebildeten und Älteren ist dieser Anteil sogar noch höher.
Drei von vier Syrern haben Deutschkurse besucht und ihre Kenntnisse im Rahmen eines Zertifikats nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen testen lassen. Ein Drittel bleibt danach bei den Sprachniveau-Stufen A1 oder A2 hängen, das rangiert unter dem Stichwort „Elementare Sprachanwendung“. Aber immerhin jeder Zweite spricht verhältnismäßig selbstständig (B1 oder B2), und mit anspruchsvolleren, längeren Texten (C1 und C2) kommen gut 14 Prozent zurecht.
Oben auf der Wunschliste: Sicherheit, Freiheit, Gesundheit und ein Job
Wer den (Bürger-)Krieg hinter sich gelassen hat, bei dem sind die Herzenswünsche unschwer zu erraten: „In Sicherheit leben“ stand bei der Befragung ganz oben, „in Freiheit leben“ knapp dahinter, gefolgt von der medizinischen Versorgung und dem Wunsch, die Familie versorgen, einen Job ausüben zu können. Doch zwischen Wunsch und Wirklichkeit klafft zumindest bei Letzterem eine große Lücke, was eng mit den verbesserungswürdigen Sprachkenntnissen zusammenhängt.
Fakt ist: Drei Viertel der Essener Syrer sind derzeit nicht erwerbstätig, gerade mal 14 Prozent arbeiten Vollzeit, weitere 6 Prozent sind in Teilzeit, 4 Prozent gehen einem Minijob nach. Die geringe Quote mit dem Umstand zu erklären, dass die Menschen im Schnitt ja erst 3,8 Jahre in Essen (und 4,8 Jahre in Deutschland) leben, geht offenbar fehl. Denn die Quote steigt offenbar nicht, je länger die Syrer hier leben. Auffällig, so die Autoren, sei vielmehr die deutlich höhere Job-Dichte bei einem unbefristetem Aufenthalt. Vielleicht, so mutmaßt man, bremst die Befristung die Motivation – oder sie schreckt potenzielle Arbeitgeber ab.
Quote bei der Kinder-Betreuung lässt zu wünschen übrig
Wenn schon die Erwachsenen Probleme haben, sich zu integrieren, soll das wenigstens bei den Kindern besser klappen. Diesen Wunsch haben auch die syrischen Eltern, doch sehr zur Überraschung der Studien-Autoren fällt die Anzahl der extern betreuten Kinder bescheiden aus: Zwei Drittel der Kinder im Kita-Alter von drei bis sechs Jahren werden überwiegend in der Familie betreut, bei den Unter-3-Jährigen ist der Anteil sogar noch höher.
Der Grund: In den allermeisten Fällen geben die Eltern an, sie hätten keinen Kita-Platz gefunden. In fast einem Drittel der Fälle geben sie aber auch zur Antwort, sie hielten ihr Kind „noch zu jung dafür“. Und ein Fünftel hält sogar eine Betreuung außerhalb der Familie für „nicht gut“. Ein Alarmzeichen für die Stadt, denn in Verbindung mit den Sprachproblemen leidet so die spätere schulische Einbindung der Kinder. Dabei ist Bildung für die syrischen Eltern ein hohes Gut: Zu 94 Prozent wünschen sie sich, dass der Nachwuchs ein Gymnasium besucht. Und zu 98 Prozent unterstützen sie auch die Bildung von Mädchen.
Für die Demokratie und freie Wahlen, Frauenrechte und Minderheitenschutz
Syrien gilt de facto als Diktatur, auch wenn das Land formell als demokratische Republik firmiert. Da nimmt es nicht wunder, dass die Stadt auch nach der politischen Einstellung fragen ließ. Das Ergebnis: Eine ganz große Mehrheit weit jenseits der 80-Prozent-Marke steht hinter der Demokratie mit ihren liberalen Elementen: gleichen Rechten für alle, geschützten Minderheiten und freien Wahlen.
Umso enttäuschter mag mancher sein, der sich dann in der Stadt diskriminiert fühlte: Knapp die Hälfte der Befragten hat nach eigenen Angaben solche Erfahrungen gesammelt – bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, aber auch bei Behörden. Entsprechend abgekühlt hat sich das Gefühl, willkommen zu sein. Bei der Ankunft sonnten sich noch 58 Prozent in dieser Überzeugung, ein Wert, der heute zehn Prozentpunkte darunter liegt.
Sprachkurse, ehrenamtliche Lotsen, Facebook-Auftritte: Was die Stadt tun soll
Die in Essen lebenden Syrer sind nach Deutschland gekommen, um zu bleiben: 84 Prozent wollen laut Umfrage irgendwann ganz sicher die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Nach Ansicht der Autoren der Studie tut die Stadt gut daran, sich darauf einzustellen. Als zentrale Aufgabe gilt dabei die sprachliche und berufliche Qualifizierung der Neubürger, wobei das eine das andere bedingt. Dies würde die Abhängigkeit von staatlichen Leistungen spürbar verringern.
Wegen des „recht hohen mitgebrachten Bildungsniveaus“ dürfte sich ein verstärkter Einsatz auch für die Stadt lohnen, heißt es in der Studie, die deshalb intensivere Kontakte in die Community empfiehlt: mit ehrenamtlichen Lotsen, mit Schulungen für Pädagogen, vielleicht auch speziellen Ausbildungs- und Qualifizierungs-Angeboten für junge Syrer.
Außerdem soll die Stadt für bestehende Beratungsangebote besser werben oder sie gleich in der Muttersprache anbieten. Zudem gelte es, die verschiedenen Akteure auf dem Feld der Integration miteinander zu vernetzen und Firmen zu motivieren, damit diese Job-Angebote schaffen – auch mit Förder- und Investitionsangeboten. Nicht zuletzt könne man Internet-Auftritte an die Zielgruppe anpassen, beispielsweise durch arabische oder kurdische Übersetzungen. Wie man die Syrer erreicht? Auf ins Internet: Knapp 67 Prozent sind (fast) täglich im Netz der Netze, sogar 80 Prozent in Netzwerken wie Instagram oder Facebook.