Essen. Das Denkmal des einstigen Ruhrbischofs und Kardinals ist längst gestürzt, jetzt startet die wissenschaftliche Aufarbeitung. Sie wird Jahre dauern.

Das Denkmal von einst ist längst abgeräumt: Die für manchen arg gewöhnungsbedürftige Figur aus Hartkeramik, die den so lange verehrten Ruhrbischof Hengsbach im Schatten des Essener Doms als „guten Hirten“ zeigte, sie liegt wohlverpackt in der Neuen Werkstatt des Ruhr Museums auf dem Kokerei-Gelände von Zollverein. Zwischenstation für eine vermeintliche Lichtgestalt, die noch lange nach ihrem Tod Verehrung genoss – bis vor nunmehr 13 Monaten schier unglaubliche Vorwürfe sexuellen Missbrauchs bekannt wurden.

Das Bistum machte fix Tabula rasa, nimmt sich nun aber Zeit für die Aufarbeitung

Reagiert wurde im Eiltempo: Nicht nur die Stadt Essen benannte flugs den Kardinal-Hengsbach-Platz um, und das Bistum machte Tabula rasa, nimmt sich jetzt aber auch Zeit für eine wissenschaftliche Aufarbeitung der „Causa Hengsbach“. Wer deren Ergebnisse dereinst nachlesen will, muss allerdings viel Geduld mitbringen.

Diesmal ist der Gründungsbischof nicht nur als möglicher Vertuscher, sondern als mutmaßlicher Täter im Visier der wissenschaftlichen Studie: Franz Kardinal Hengsbach.
Diesmal ist der Gründungsbischof nicht nur als möglicher Vertuscher, sondern als mutmaßlicher Täter im Visier der wissenschaftlichen Studie: Franz Kardinal Hengsbach. © dpa | Fritz Fischer

Denn nicht weniger als drei Jahre sind angesetzt, um mit einer wissenschaftlich fundierten Recherche samt angeschlossenem Buch-Projekt das Bild des beschuldigten Gottesmannes um seine offenbar dunkelste Seite zu ergänzen. Ein Mammut-Vorhaben, bei dem gleich fünf kirchliche Institutionen mitmischen: das Bistum Essen, dessen Weg Hengsbach von der Gründung 1958 bis zu seinem Rücktritt 1991 prägte, das Erzbistum Paderborn, wo er zuvor als Weihbischof aktiv war, dazu das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat, die katholische Militärseelsorge sowie das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, überall war Hengsbach Jahrzehnte aktiv.

Der Studie zweiter Teil: Aufarbeiten, was dem IPP 2023 verschwiegen wurde

Nein, eine rein juristische Aufarbeitung sei dabei nicht zu erwarten, so betont Helga Dill vom beauftragten Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), einer der ersten Adressen, wenn es um die wissenschaftliche Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs geht: Wie auch, mehr als 33 Jahre nach dem Tod des Geistlichen, den gleich zwei Frauen unabhängig voneinander beschuldigen, ihnen vor Jahrzehnten sexuelle Gewalt angetan zu haben.

Schon vor viereinhalb Jahren war Helga Dill vom Institut IPP (Mitte) mit der Frage sexuellen Missbrauchs im Ruhrbistum befasst. Damals aber verschwieg Bischof Franz-Josef Overbeck (rechts) noch Informationen, nach denen es auch persönliche Anschuldigungen gegen den einstigen Kardinal gab.
Schon vor viereinhalb Jahren war Helga Dill vom Institut IPP (Mitte) mit der Frage sexuellen Missbrauchs im Ruhrbistum befasst. Damals aber verschwieg Bischof Franz-Josef Overbeck (rechts) noch Informationen, nach denen es auch persönliche Anschuldigungen gegen den einstigen Kardinal gab. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Als diese Vorwürfe im September 2023 öffentlich wurden, ging ein Beben durch die katholische Kirche der Republik. Und beim Münchner IPP, das im Vorfeld zahllose Bistums-Dokumente durchforstet hatte, zeigte man sich fassungslos. „Wir waren, gelinde gesagt, nicht amüsiert“, sagt Helga Dill, hatte ihr Institut doch erst wenige Monate zuvor eine umfangreiche wissenschaftliche Studie über sexuellen Missbrauch im Ruhrbistum vorgestellt. Als jemand, der sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen eher abwiegelte, ignorierte oder gar vertuschte als ernst nahm und aufklärte, kam Hengsbach schon dort nicht gut weg.

Ein Kraftakt, auch finanziell: 785.000 Euro kostet die Studie samt Biografie

Doch den Sprengstoff, Hengsbach gehöre womöglich selbst zu den Tätern, verschwieg man den Studien-Machern damals, obwohl entsprechende Hinweise schriftlich vorlagen – ein Versäumnis, für das der jetzige Bischof Franz-Josef Overbeck sich ausdrücklich entschuldigte.

Der Kardinal ging, der Frieden kam: Seit einem halben Jahr trägt der Platz zwischen Anbetungskirche und Kennedyplatz seinen neuen Namen.
Der Kardinal ging, der Frieden kam: Seit einem halben Jahr trägt der Platz zwischen Anbetungskirche und Kennedyplatz seinen neuen Namen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Und so soll diesmal alles anders werden: „Wir wollen diesmal in alle Schubladen schauen, die es gibt“, sagt Dill. Komplette Offenheit, Einblick auch in geheimste Akten und Archive, die Möglichkeit zu Interviews mit Betroffenen, all dies soll diesmal das Menschen-Puzzle des Franz Kardinal Hengsbach vervollständigen. Eingebunden sind dazu neben dem IPP auch die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) sowie das Institut für Bildung und Forschung Dissens. Ein alles in allem aufwendiges, auch teures Unterfangen: Rund 785.000 Euro lassen sich die fünf Auftraggeber die Studie samt ergänzender Biografie kosten.

Ludger Schrapper: „Wir werden uns der Wahrheit zumindest annähern können“

„Ein Kraftakt“, sagt Ludger Schrapper, einst Ministerialbeamter, inzwischen im Ruhestand und seit Herbst vergangenen Jahres Vorsitzender der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Aufklärungsarbeit zur sexualisierten Gewalt im Bistum Essen zu forcieren. „Wir werden uns der Wahrheit zumindest annähern können“, betont Schrapper und setzt darauf, dass die Studie nicht zuletzt „als Signal an die Gesellschaft wahrgenommen wird, dass hier nichts abgeschlossen ist, nichts vertuscht wird“.

Zwischen Fürstbischof und Zechen-Kumpel – Bischof Hengsbach (links), hier unter anderem mit dem Vorsitzenden der IG Bergbau, Adolf Schmidt, war eine schillernde Persönlichkeit, die bis heute Ihre Verehrer findet.
Zwischen Fürstbischof und Zechen-Kumpel – Bischof Hengsbach (links), hier unter anderem mit dem Vorsitzenden der IG Bergbau, Adolf Schmidt, war eine schillernde Persönlichkeit, die bis heute Ihre Verehrer findet. © picture alliance / dpa | Roland Scheidemann

Bei manchen Beobachtern weckt schon die schiere Flut der auszuwertenden Quellen, Dokumente und Zeitzeugen-Gespräche den Verdacht, da könne der sexuelle Missbrauch womöglich arg relativiert werden und im Wust der unbestrittenen Verdienste Hengsbachs untergehen. Johannes Norpoth aber vom Betroffenenbeirat winkt ab: Zweifellos habe Hengsbach viel Positives bewirkt, „aber keine noch so gute Tat darf als Make-up die hässliche Fratze des Missbrauchs übertünchen.“

Hier können Sie an der Studie mitwirken

Das Forschungsteam zur Causa Hengsbach ist nicht zuletzt darauf angewiesen, dass Menschen, die etwas zum Thema beitragen können, mit ihm sprechen oder ihm schriftliche Mitteilungen zukommen lassen.

Melden sollen sich Personen,
- die Kardinal Hengsbach noch persönlich erlebt haben und über Erfahrungen (positive und negative) mit ihm berichten können.
- die selbst betroffen waren von Grenzüberschreitungen, sexualisierter Gewalt oder machtmissbräuchlichem Verhalten durch Kardinal Hengsbach oder dieses beobachtet bzw. berichtet bekommen haben.
- die Auskunft geben können über den Umgang von Kardinal Hengsbach mit beschuldigten Klerikern in seinen Verantwortungsbereichen.

Die Angaben werden laut Studien-Autoren absolut vertraulich behandelt und anonym ausgewertet.

Wer Kontakt aufnehmen will, wendet sich an Helga Dill, Peter Caspari oder Florian Straus. Per Post: IPP München, Ringseisstr. 8, 80337 München; per E-Mail: Aufarbeitung@ipp-muenchen.de ; per Telefon: 089-54359770.

Die Studien-Autoren starten deshalb einen erneuten öffentlichen Aufruf, möglichst viele Menschen mögen sich melden um ihre Sicht auf Hengsbach zu schildern: Ihr Wort machen sollen dabei nicht nur all jene, die „selbst betroffen waren von Grenzüberschreitungen, sexualisierter Gewalt oder machtmissbräuchlichem Verhalten von Kardinal Hengsbach oder dieses beobachtet bzw. berichtet bekommen haben“. Es geht auch um persönliche Erlebnisse, positive wie negative, mit ihm als Mensch oder seinen Umgang mit beschuldigten Klerikern in seinen Verantwortungsbereichen. „Wir behandeln Ihre Angaben absolut vertraulich und werten die Abgaben anonym aus“, heißt es in dem Aufruf.

Betont selbstkritisch mit dem Personenkultu in der Kirche: Generalvikar Klaus Pfeffer. „Für uns als Bistum Essen ist klar, dass wir uns da nicht mit Ruhm bekleckert haben.“
Betont selbstkritisch mit dem Personenkultu in der Kirche: Generalvikar Klaus Pfeffer. „Für uns als Bistum Essen ist klar, dass wir uns da nicht mit Ruhm bekleckert haben.“ © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Ein ähnlicher, bereits im September erfolgter Appell durch Bischof Overbeck bescherte bis heute sieben Meldungen auf mögliche sexuelle Gewalt durch den einstigen Bischof Hengsbach, eine weitere sei just am Montag (21. Oktober) eingegangen, sagen die Studien-Autoren.

„Für uns als Bistum Essen ist klar, dass wir uns da nicht mit Ruhm bekleckert haben“

Ob diese nachträglichen Meldungen Substanz haben oder auch nur ansatzweise das Ausmaß sexueller Gewalt beschreiben, die von den beiden älteren Frauen beklagt wird, bleibt offen: Die Unterlagen würden an die Studien-Autoren weitergereicht, versichert der Bischöfliche Generalvikar Klaus Pfeffer, der die Kirche nach wie vor in der Schuld sieht. Man habe Hengsbach zweifellos auf ein allzu hohes Podest gehoben: „Für uns als Bistum Essen ist klar, dass wir uns da nicht mit Ruhm bekleckert haben.“