Essen. Roman von 1938 wird zum aktuellen Bühnenstoff: Hakan Savaş Mican hat „Der Reisende“ fürs Schauspiel Essen bearbeitet und um eigene Texte ergänzt.
Als der Autor Ulrich Alexander Boschwitz 1938 seinen Roman „Der Reisende“ schrieb, konnte er noch nichts wissen von den unfassbaren Schrecken des Holocaust. Sein Buch geriet gleichwohl zur bedrückend-weitsichtigen Beschreibung einer Welt, in der Mitmenschlichkeit unter dem Regime der Nazis bald nichts mehr zählen sollte.
Der Romanfigur Otto Silbermann, wohlhabender Geschäftsmann mit jüdischen Wurzeln, wird am Ende alles genommen - Familie, Vermögen, Fluchtweg. Boschwitz selbst verlor 1942 mit nur 27 Jahren beim Untergang eines Flüchtlingsschiffs sein Leben. Auch sein Roman verschwand lange Jahre in der Versenkung. Die Wiederentdeckung 2018 galt als kleine literarische Sensation.
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Sechs Jahre später erscheint das Buch vor dem Hintergrund zunehmenden Antisemitismus und eines bedrohlichen Anstiegs des Rechtspopulismus in Europa dringlicher denn je. Im Essener Grillo-Theater eröffnet die Bühnenfassung am Freitag, 13. September, die neue Spielzeit. Hakan Savaş Mican führt Regie.
Ein Mann auf der Reise, der durch Zugfenster sieht, wie sich die Welt um ihn herum verwandelt und verschließt, so ein Mann ist Anfang 2020 auch Hakan Savaş Mican. Auf einer Zugfahrt quer durch Europa hat er damals auch Boschwitz‘ Buch im Gepäck und ist sofort angetan. „Ich fand es wert, die Geschichte auf die Bühne zu bringen, aber durch meine Brille gelesen“, sagt der 46-jährige Autor und Theater-Regisseur.
Hakan Savaş Mican: In Berlin geboren, in der Türkei aufgewachsen
Diese Brille, sie sitzt auf der Nase eines Mannes, der 1978 in Berlin geboren wurde, als Sohn einer Fabrikarbeiterfamilie in der Türkei aufgewachsen ist und vergleichsweise spät mit der Kunst, mit Theater in Berührung kam. „Das war in unserer Familie nicht selbstverständlich.“ 1997 ging er zurück nach Berlin und machte dort 2004 sein Diplom in Architektur. Mittlerweile hat sich Mican als Filmemacher, aber vor allem als Autor und Theaterregisseur an großen deutschen Häusern vom Hamburger Thalia-Theater bis zum Münchner Volkstheater einen Namen gemacht. Wenn man ihn nach Heimat fragt, sagt er Berlin.
Infos zu „Der Reisende“ im Grillo
Für die Premiere am Freitag, 13. September, 19.30 Uhr, im Essener Grillo-Theater gibt es noch wenige Restkarten.
Weitere Vorstellungen von „Der Reisende“ stehen am 21. und 22. September, sowie am 10. und 24. Oktober auf dem Programm.
Tickets gibt es im Ticket-Center der TUP, II. Hagen 2, unter Tel. 0201-8122-200 und unter www.theater-essen.de
Ähnlich wie ihm ergehe es im Roman auch diesem Otto Silbermann. Der Kaufmann verstehe sich als Berliner, seine jüdischen Wurzeln seien für ihn eher zweitrangig, sagt Mican. Dass er als gutsituierter Großbürger in einem Land, für das er im 1. Weltkrieg noch an der Front gestanden hat, plötzlich ausgegrenzt und verstoßen würde, das sei für Silbermann nicht nachvollziehbar, beschreibt Mican die Gemütslage des Romanhelden.
In den Roman von Ulrich Alexander Boschwitz fließen persönliche Betrachtungen und Gedanken ein
Als Hausregisseur am Berliner Gorki-Theater hat Mican zuletzt mit seiner Bühnen-Fassung von Dinçer Güçyeters Debütroman „Unser Deutschlandmärchen“ für Furore gesorgt. Auch für „Der Reisende“ hat der vielseitige Theatermann eine eigene Fassung erarbeitet. Mit Bildern - und Liedern - die seine eigene Reise begleitet haben und nun in die Essener Inszenierung von „Der Reisende“ einfließen. Die Texte seien damals eigentlich für ein anderes Projekt entstanden, erzählt Mican. Nun will er die sehr persönlichen Gedanken seines Reisetagebuchs, die auch um die Fragen nach Zugehörigkeit und Identität kreisen, mit dem Essener Publikum teilen.
Schauspieler werden die Texte sprechen, dazu kommt eine Band auf die Bühne, die unterschiedliche Sounds von Fado bis Rembetiko spielt und das Stück so zu einer „visuell-musikalischen Komposition verdichtet“ , erklärt Mican.
„Ich verfälsche die Geschichte von Otto Silbermann nicht, ich belassen sie in der Zeit“
Natürlich verändere die aktuelle politische Situation den Blick auf den Roman, weiß der Regisseur. Gleichwohl wird Mican an der Vorlage nichts verändern. „Ich verfälsche die Geschichte von Otto Silbermann nicht, ich belasse sie in der Zeit.“ Den Boschwitz-Text zu aktualisieren, „das wäre ein zu großer Eingriff“, findet der Regisseur. „Wenn man das Tagesaktuelle mit auf die Bühne nimmt, wird es flach und didaktisch. Als Theatermacher will ich nicht eine fertige Meinung liefern. Das macht das Publikum faul.“
Ohnehin sei die Geschichte dieses Otto Silbermann dazu angetan, verbreitete Erzählweisen und Reflexe zu konterkarieren. „Juden, Zweiter Weltkrieg, Holocaust: viele Menschen schotten da gleich ab“, hat Mican oft erfahren.
„Der Reisende“ sei aber keine typische Leidensfigur, sondern eine äußerst ambivalente und vielgestaltige Romangestalt. „Das Interessante ist, dass er sich nie als Opfer sieht“, erklärt Mican. Dass dieser Silbermann sich nicht unterkriegen ließe, das sei eine ganz wichtige Botschaft des Abends.
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