Essen.. Hendrik Wüst besucht die Tafel und ihren Chef Jörg Sartor. Bedürftige hätten ihm viel zu sagen, doch es bleibt bei einem kurzen Austausch.
Dass dieser Montagvormittag kein gewöhnlicher ist bei der Essener Tafel, sieht man auf den ersten Blick. Polizisten bewachen die Zufahrt zum Huttroper Wasserturm an der Steeler Straße, wo einige Frauen und Männer mit ihren Einkaufstrolleys darauf warten, dass die Lebensmittelausgabe beginnt. Bald darauf fahren drei schwarz lackierte Kleintransporter vor. An Bord: Journalisten aus Düsseldorf und Berlin und die Entourage von Ministerpräsident Hendrik Wüst, der seinen Besuch angekündigt hat.
Wüst legt auf seiner „Sommertour“ einen Zwischenstopp bei der Essener Tafel ein. Vorher hat der Ministerpräsident in einem Chemiepark in Dormagen vorbeigeschaut, anschließend geht es weiter nach Duisburg zum „Innovation Lab“ der Landespolizei. Bei der Essener Tafel will Wüst sich über die ehrenamtliche Arbeit dort informieren. Dass es auch um Armut gehen dürfte, um Sozialpolitik und über Bürgergeld, über das gerade viel gesprochen wird, liegt auf der Hand. Eigentlich.
Dem Ministerpräsidenten hätten die Besucher der Essener Tafel genug zu sagen
Draußen in der Schlange wartet Petra Meyer. Was würde sie dem Ministerpräsidenten sagen? „Dass man mit dem Bürgergeld nicht auskommt.“ 25 Jahre habe sie im Versand eines großen Verlages gearbeitet, erzählt die 63-Jährige. Bis es aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr weiterging. Nun lebe sie von Bürgergeld. Abzüglich Miete und Heizkosten blieben ihr 490,95 Euro im Monat. „Man kann noch so sparsam sein. . .“, sagt sie und lässt den Satz unvollendet.
In einer dunklen Limousine fährt Hendrik Wüst vor. Die letzten Meter geht er zu Fuß bis zum Eingang, wo Tafelchef Jörg Sartor den Ministerpräsidenten empfängt. Wüst wirkt freundlich, zugewandt. Doch ein Menschenfischer ist er nicht. Ein Johannes Rau, ganz Landesvater, hätte seinerzeit wohl sofort das Gespräch mit Petra Meyer und den anderen, die draußen stehen, gesucht.
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Redebedarf gäbe es genug. Werner Held (79) würde dem Ministerpräsidenten von seiner Sorge berichten, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergeht. Johann Müller (68) würde ihm gerne sagen, dass an der Tafel öffentliche Toiletten fehlen und ein Dach zum Unterstellen. Auch, wenn der Ministerpräsident dafür nicht der richtige Adressat wäre.
Wüst aber folgt Tafel-Chef Sartor in den Wasserturm und lässt sich von ihm zwischen Obst und Gemüse den Alltag in der Ausgabestelle schildern, bevor man sich zum Gespräch hinter verschlossene Türen zurückzieht. Als der Ministerpräsident samt Gefolge den Wasserturm verlässt, läuft die Lebensmittelausgabe bereits. Wüst kommt mit eine Besucherin ins Gespräch. Sie berichtet ihm von ihrer schmalen Rente und davon, dass sie froh sei, dass sie bei der Tafel einmal in der Woche Lebensmittel bekommt.
Der Essener Tafel geht es um Lebensmittel, nicht um die Bekämpfung von Armut
Zweck der Tafel ist es, Lebensmittel zu sammeln und zu verteilen, bevor sie vernichtet werden, betont Sartor. Nicht mehr und nicht weniger. „Auch wenn wir die Tür hier abschließen, verhungert draußen kein Mensch.“ Aber: Wer zur Tafel kommt, muss nachweisen, dass er oder sie bedürftig ist. Um Armut geht es also schon. Oder?
Sozialdezernent Peter Renzel erinnert daran, dass die Grundsicherung in den vergangenen zwei Jahren um 23 Prozent gestiegen sei. Auf Facebook hat Renzel Gedanken zu einer Reform der Sozialgesetzgebung formuliert, die er für erforderlich hält. „Wir haben in Deutschland keine Massenarbeitslosigkeit mehr, wohl aber immer massiver werdende Probleme, Arbeitsstellen in nahezu allen Branchen zu besetzen“, so Renzel.
Essens Sozialdezernent Peter Renzel hält eine Reform für erforderlich
Über Leistungsbezieher, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr arbeiten können, schreibt Essens Sozialdezernent: „Wir sollten diese Menschen nicht in den Behörden (Agentur für Arbeit und Job-Center) verwalten, verwahren und betreuen, weil sich die Mitarbeitenden dieser beiden Behörden dringend und ausschließlich auf die Vorbereitung und Vermittlung in Arbeit und Beschäftigung konzentrieren müssen.“
Draußen stehen diejenigen, um die es geht. Beim Besuch des Ministerpräsidenten sind sie Zaungäste. Beim Thema Armut belässt es Wüst bei einigen allgemeinen Aussagen. Deutschland verfüge über ein tragfähiges soziales Netz, auch wenn es nicht perfekt sei. Und: „Gut, dass es die Tafeln gibt“. Dann bricht der Tross auf. „Es ändert sich nichts. Wenn die wieder Zuhause sind, haben wir noch die gleichen Probleme“, sagt eine Frau aus der Menge. Die schwarzen Kleinbusse und die Limousine des Ministerpräsidenten fahren bald darauf davon.
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