Essen. Die Kirchen wollen sich von vielen Immobilien trennen. Eine Ausstellung zeigt, wie die Kirche trotzdem im Dorf bleibt. Oder im Stadtteil.

Die Geschichte lässt sich auch als eine von Tod und Auferstehung erzählen. Wer die Heilig-Geist-Kirche in Essen-Katernberg betritt, nimmt erst einmal eine Nase voll Muffigkeit. Wie das so ist in jahrelang nicht genutzten Gebäuden, ein wenig feucht ist es. Da, wo einst der Altar stand, ist ein Betonfundament, der Kerzenständer daneben wackelt und steht schief. Unter den Bänken, wo eigentlich der Chor singen sollte, liegen verstaubte Gebetbücher.

Lockdown statt Abschiedsgottesdienst in Essen

„Die Kirche ist mit Beginn des Corona-Lockdowns geschlossen worden und wurde nie wieder geöffnet“, sagt Felix Hemmers. Und lenkt den Blick, wie es sich gehört, nach oben: In das Dach, das sich wie ein übergroßes Zelt über dem Saal aufspannt, helles Sonnenlicht dringt durch die Scheiben, die fast klar sind und nur wenig verziert. Felix Hemmers hat sich ein wenig in dieses Kirchenschiff, das ein Zelt sein will, verliebt. „Ein idealer Ausstellungsraum“, sagt er und freut sich: Hier wird am Sonntag, 1. September, die Ausstellung „Kirchen als Vierte Orte – Perspektiven des Wandels“ eröffnet.

Kurz erläutert: Bislang gab es die Dreifaltigkeit der Orte: Familie, Beruf und den dritten Ort der Gemeinschaft, irgendwo zwischen Vereinsheim, Kneipe und Konsumtempel. Und nun also: der vierte Ort: die ehemalige Kirche. Begegnungsort, der Kontemplation und Gemeinschaft gleichermaßen anbieten kann. Und jetzt neu: Auch ohne Gloria und Gottesdienst.

Gedacht war es anders: Dominikus und Gottfried Böhm, Architektur-Päpste des Nachkriegskirchenbaus, hat diesen Kirchenbau Mitte der 1950er-Jahre für den Standort unweit des Weltkulturerbes Zollverein im Essener Norden entworfen. Damals, auch so eine Geschichte von Tod und Auferstehung, fühlte sich das junge Bistum Essen berufen, seinen Gläubigen möglichst überall in Fußgängerentfernung eine Kirche anzubieten.

Das Ruhrgebiet, Paradies des Nachkriegskirchenbaus

Für Architekturfreunde entstand so ein – nun ja – Mekka der Nachkriegsarchitektur. „Die Gebäude dieser Nachkriegsmoderne weisen fast alle bis in die kleinsten Bereiche der Gestaltung und Lichtführung hinein ein sehr durchdachtes Raumkonzept auf“, schwärmt Hemmers, 29 Jahre alt, gelernter Innenarchitekt und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Vereines „Baukultur NRW“.

Doch der architektonische Goldschatz zieht heute die Bilanzen des vergleichsweise armen Bistum Essen wie ein Bleigewicht nach unten. Also muss sich dieses Bistum – und mittlerweile auch viele andere im Land und ebenso auch die evangelischen Kirchen – von zahlreichen Gebäuden trennen. Unter großen Schmerzen, wie jüngst in Mülheim. Klar, da sind Pfarrhäuser und Jugendzentren dabei.

Aber eben auch die Kirchen, von denen sich auch jene Menschen nicht trennen mögen, die sie schon seit Jahren nicht mehr betreten. „Wir rechnen damit, dass in den nächsten Jahrzehnten jede zweite Kirche aufgegeben wird“, sagt Hemmers. Hieße: von dereinst rund 6000 Kirchengebäuden in NRW stehen 3000 leer.

Felix Hemmers hat die Ausstellung „Kirchen als Vierte Orte – Perspektiven des Wandels“ in Essen kuratiert.
Felix Hemmers hat die Ausstellung „Kirchen als Vierte Orte – Perspektiven des Wandels“ in Essen kuratiert. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Und was geschieht damit? „Kirchen sind immer emotionale Orte. Die Menschen verbinden sie vielleicht mit ihrer Trauung, mit der Taufe der Kinder, mit der Beerdigung der Großmutter“, sagt Hemmers. Und wo die Kirche ist, ist der Mittelpunkt. Mindestens des Dorfes, oft auch des Stadtteils.

Die Ausstellung „Kirchen als Vierte Orte“ versucht in Essen Antworten zu geben

Was also ist zu tun, um Kirchengebäude zu retten? Nun, zumindest müssen möglichst viele Akteure mit anpacken: die Kirchengemeinde, die Kommune, Vereine, Verbände, lokale Akteure. Dann steigen die Chancen, dass sich ein altes Gotteshaus mit neuem Leben füllen lässt. Als Vereinshaus, Kletterhalle, Konzertsaal, Bibliothek, Wohnstätte oder ähnliches. Und wenn das gut gelingt, so Hemmers, bleibt auch etwas vom Geist des Ortes, zumindest dem architektonischen, erhalten. Denn was eine Kirche zur Kirche macht, ist ziemlich undeutlich.

Hemmers versucht mit der von ihm gestalteten Ausstellung Antworten, zumindest aber Anregungen zu geben. Angeblich reiner Zufall, aber dennoch: Es stehen genau zwölf Monitore um den einstigen Altarstein herum als wären es die zwölf Jünger. Und dort, am Altar, ein dreizehnter Monitor, auf dem ein Pfarrer erzählt, was aus seiner Kirche geworden ist.

Der Kurator der Ausstellung der Baukultur, Felix Hemmers, neben einer der 13 Videoleinwände. Die Ausstellung „Kirchen als Vierte Orte – Perspektiven des Wandels“ ist in der Heilig-Geist-Kirche in Essen-Katernberg zu sehen.
Der Kurator der Ausstellung der Baukultur, Felix Hemmers, neben einer der 13 Videoleinwände. Die Ausstellung „Kirchen als Vierte Orte – Perspektiven des Wandels“ ist in der Heilig-Geist-Kirche in Essen-Katernberg zu sehen. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Zwölf weitere Bildschirmgeschichten, 27 Beispiele insgesamt, sollen hier in Heilig-Geist in Essen-Katernberg zeigen, was Ideenreichtum möglich macht. Wie neues Leben und eine neue Nutzung in die Immobilien kommen kann.

Und da werden auch die Kirchen zunehmend offener. Anfangs gelang es oft noch, Kirchen an andere christliche Gemeinschaften, beispielsweise eine syrische oder afrikanische Gemeinde mit Wachstumspotenzial, weiterzugeben. Oder eine Kirche zum Kolumbarium, zum Aufbewahrungs- und Gedenkort für Urnen, umzugestalten. In jüngerer Zeit müssen sich die beiden großen Volkskirchen aber auch zunehmend toleranter gegenüber weltlichen Nutzungen geben. Wie jüngst in Essen, wo eine Kirche nun auch Sporthalle werden darf.

Einst Kirche, jetzt Wohnort: Eine umgebaute Kirche in Essen-Holsterhausen.
Einst Kirche, jetzt Wohnort: Eine umgebaute Kirche in Essen-Holsterhausen. © FUNKE Foto Services | Christof Köpsel

Hemmers nennt die „Orgelkirche“ in St. Trinitatis Wuppertal. Zugegeben, ein noch einigermaßen nah am Ursprungsnutzen angelehnter Musikalienhandel. In St. Rochus in Jülich hat ein Fahrradhändler in einer Kirche seine Werkstatt und sein Ladenlokal aufgemacht. Immerhin ist er in der Kirche getauft und Fahrradfahren sowie die Weiternutzung alter Gebäude, das ist ja immerhin ein Beitrag zur Bewahrung der Schöpfung – der Natur wie der Architektur.

Oder die Liebfrauenkirche Duisburg, die zur Kulturkirche wurde, die Kirche Heilige Familie in Oberhausen, wo nun die „Tafel“ zuhause ist. Auch in St. Bernardus Oberhausen wird gespeist: Sie vereint Kapelle und Gatronomie unter einem Dach. Während in Christus-König in Düsseldorf KiTa und Familienzentrum ein neues Dach gefunden haben. Die Neue Pauluskirche in Essen, sie wurde zum Wohnort für Senioren und in Bochum entstand aus der Kirche St. Marien das Konzerthaus samt Musikforum.

Blick in die teilprofanierte katholische Kirche St. Bernardus in Oberhausen - Sterkrade. Das Gotteshaus wird als Eventkirche genutzt. Eine Glaswand trennt Kapelle und Gastronomie.
Blick in die teilprofanierte katholische Kirche St. Bernardus in Oberhausen - Sterkrade. Das Gotteshaus wird als Eventkirche genutzt. Eine Glaswand trennt Kapelle und Gastronomie. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Und – und damit kommen wir am Ende zu einer frohen Botschaft, an die man derzeit noch glauben muss: Jedenfalls so lange, bis die Verträge unterzeichnet sind: Die Heilig-Geist-Kirche, sie könnte Ausstellungsort bleiben. Es gibt einen Interessenten, der bereit ist, das Projekt zu fördern. Im Idealfall könnte sogar das bauliche Ensemble ringsherum mitgenutzt werden. Da, wo Kita, Pfarrheim, Pfarrhaus in kleinen Kuben im Schatten des Zeltbaus stehen. Dort Künstlerateliers, da der Ausstellungsort. Gestorben als Kirche, wiederauferstanden als Musentempel. Fragt sich, was für die vielen Hundert anderen Kirchen für Ideen tragen.

Die Ausstellung, die Eröffnung und das Manifest

Die Ausstellung „Kirchen als Vierte Orte“ wird am Sonntag, 1. September, 11 Uhr, in der Kirche Heilig-Geist in Essen-Katernberg, Meybuschhof 9 eröffnet. Mit einem Gottesdienst. Um der Gemeinde jenen Abschied zu ermöglichen, der ihr zur Coronazeit verwehrt bleiben musste. Danach folgt eine Performance und Gesprächsrunden. Anmeldungen hier. Anschließend ist die Ausstellung bis zum 6. Oktober zu sehen, mittwochs bis freitags von 15 bis 20 Uhr, samstags und sonntags von 10 bis 18 Uhr. Weitere Stationen für die Ausstellung sind geplant. Der Eintritt ist frei.

Begleitend zur Ausstellung ist am Donnerstag, 5. September, um 19 Uhr eine Diskussion über „Das Kirchenmanifest“. Das Manifest steht für den Vorschlag, eine gemeinschaftlich getragene Stiftung ins Leben zu rufen. Sie soll bei den Ideenfindungen und Transformationsprozessen für neue Nutzungen der Kirchengebäude helfen.