Richter sehen „keine hohe Wahrscheinlichkeit strafbarer Äußerungen“ und zerpflücken die Kemper-Expertise als „untauglich“ und „unwissenschaftlich“.
Noch am Donnerstag suchte der Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht die gütliche Einigung, so wie es das Gesetz auch nahelegt: Ob hüben die „Alternative für Deutschland“ und drüben die Stadt Essen im Streit um die Hallen-Kündigung vielleicht zu einem Kompromiss zu bewegen seien? Eine Selbstverpflichtung, aber niedrigere Strafen, weniger Drohung mehr Konsens, was auch immer – ob man sich das vorstellen könne?
Eine gütliche Einigung scheiterte: „Keine ausreichende Schnittmenge für eine Einigung“
Man konnte nicht: Es sei schnell klar gewesen, „dass die jeweiligen roten Linien keine ausreichende Schnittmenge für eine Einigung bieten“, sagt einer der Beteiligten. Also schritt die 15. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen am Freitag zur Entscheidung, und die fällt nach einem Blick auf den 21-seitigen Beschluss samt Begründung ziemlich eindeutig zugunsten der AfD aus.
Dass eine nicht verbotene Partei das Recht hat, in städtischen Räumlichkeiten im Allgemeinen und in der Grugahalle im Besonderen einen Parteitag abzuhalten, das war der Stadt dabei schon vorher klar. Dieser „Kontrahierungszwang“ gilt, seit der Schmetterlingsbau an der Norbertstraße solchen Parteitagen eine Bühne bietet: SPD, CDU, FDP, ja, auch DKP und selbst die AfD waren in den vergangenen Jahrzehnten schon zu Gast. Diese Gelegenheit weiter zu bieten, ist ein Gebot der Chancengleichheit, verankert im Parteien- und im Grundgesetz, signalisiert das Verwaltungsgericht.
AfD-Parteitag in Essen:
- AfD-Bundesparteitag 2024 in Essen: Der Newsblog
- Warum sind Sie hier? „Nach der Europawahl war ich geschockt“
- Parteitag und Demos: So haben es Rüttenscheider erlebt
- Alle Artikel, Fotos und Video zum AfD-Parteitag in Essen gibt es hier
Derlei Treffen einzuschränken, ist zwar grundsätzlich möglich, allerdings schwer zu rechtfertigen, mahnt das Gericht. Der Stadt und ihren Anwälten gelang nach Überzeugung des Gerichts jedenfalls „keine hinreichend gefestigte Gefahrenprognose“, die geeignet gewesen wäre, den verfassungsrechtlich fundierten Anspruch der AfD auszuschließen. Was die Sorge vor strafbaren Handlungen durch Äußerungsdelikte angeht, seien nun einmal „im Rahmen der Gefahrenprognose strenge Anforderungen zu stellen“. Und diese „hohe Wahrscheinlichkeit von Rechtsverletzungen“ sieht das Gericht nicht gegeben.
Die von der Stadt vorgelegte Expertise des Soziologen und Publizisten Andreas Kemper reiche jedenfalls als Begründung nicht aus: Die Stellungnahme sei als Nachweis für zu erwartende Rechtsverstöße kurzerhand „untauglich“, ihr „fehlt als wissenschaftliche Ausarbeitung im Sinne einer (parteilichen) gutachterlichen Stellungnahme (...) grundlegend die Darstellung angewandter wissenschaftlicher Methoden“. Oder in einem Satz: „Der Ausarbeitung fehlt bei genauer Betrachtung jeder empirische Gehalt.“
Nachgeplapperte SA-Parolen in der Grugahalle? „Kann zutreffen, muss es aber nicht“
Eine ziemliche Klatsche für die Expertise Kempers, der „von mündlichen oder schriftlichen Äußerungen einzelner Personen“ darauf geschlossen habe, ähnliche Parolen seien auch auf dem AfD-Bundesparteitag in Essen zu erwarten. „Die Annahme kann zutreffen, sie muss es aber nicht“, sagt das Gericht und formuliert, man müsse wohl vorab Kenntnis von Redebeiträgen haben, um die Gefahr eines strafbaren Verlaufs einschätzen zu können. Illusorisch, zumal in der Regel ja nicht das vorher aufgeschriebene, sondern das gesprochene Wort gilt.
Zwar könnten in der Hitze des Wortgefechts spontane Entgleisungen in den strafbaren Bereich führen, aber „dies bliebe dann einer strafrechtlichen Aufarbeitung vorbehalten“. Eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ strafbarer Äußerungen lässt sich nach Ansicht der Richter damit vor der Veranstaltung nicht feststellen. Mehr noch: Überzogene und bisweilen unsachliche Urteilskritik, auch mit drastischer Wortwahl, seien „in einem Rechtstaat grundsätzlich hinzunehmen“.
Auch die mancherorts geäußerte Befürchtung, dass es anlässlich der geplanten Veranstaltung zu Demonstrationen kommen wird, seien kein Argument, die Bühne zu verweigern: „Es ist Aufgabe der (Polizei- und Ordnungs-)Behörden, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren und eingetretene Störungen zu beseitigen.“ Die mit der Veranstaltung möglicherweise verbundenen Risiken lägen „im Bereich dessen, was in einer auf Demokratie und Meinungsfreiheit beruhenden Rechtsordnung als Begleiterscheinung öffentlicher politischer Auseinandersetzungen prinzipiell in Kauf genommen werden muss“.
Gewaltaufrufe in nicht beherrschbarem Umfang wurden „nicht glaubhaft gemacht“
Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn die Partei verboten wäre oder „Tatsachen vorlägen, die die Befürchtung rechtfertigten, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit polizeilichen Mitteln nicht aufrechterhalten werden könnte, also im Fall eines so genannten polizeilichen Notstands“. Hierfür fehlt es nach Ansicht der Verwaltungsrichter aber an jedweden konkreten Anhaltspunkten. „Etwaige Gewaltaufrufe in nicht beherrschbarem Umfang hat die Antragsgegnerin nicht glaubhaft gemacht.“