Essen. Der deutschlandweit erste Dachverband für Studierende aus Syrien hat sich in Essen gegründet. Was haben sie vor? warum treibt sie an?

Im Alten Rathaus in Kray hat sich jetzt eine deutschlandweite Organisation gegründet, die die Interessen von Studierenden syrischer Herkunft vertreten will. „Wir wollen die Studierenden, die in der ganzen Welt verstreut sind, zusammenbringen und ihnen das Studium erleichtern“, sagt Qussai Shikh Suliman, der Vorstandsvorsitzende.

Syrien erlebt eine der größten und längsten Vertreibungen der Welt. Derzeit sind 7,2 Millionen Menschen betroffen, die zweithöchste Zahl nach dem Sudan. Fünf Millionen Syrer sind in die Nachbarländer geflohen. In Deutschland leben 972.000 Syrer, in Essen 15.324. Mit über 21.300 Studierenden stellen Syrer eine große Gruppe unter den ausländischen Studierenden in Deutschland.

Beim Gründungstreffen im Alten Rathaus sind 120 syrische Studierende versammelt, sie sind zwischen 20 bis 35 Jahre und kommen von verschiedenen Universitäten aus mehreren Bundesländern.

Das Programm des Gründungstreffens umfasst Diskussionen über die neu zu gründende Union, ihre Ziele und Aktivitäten. Weitere Themen sind Identität, Zugehörigkeit und Integration. Die Veranstaltung endet mit einer Podiumsdiskussion. Bishar Najjar, ein Reasearcher und syrischer Influencer, und Aya Alwais, Forscherin an der Universität Bremen, nehmen daran teil. Auch Aladdin Abdin, Mitbegründer der syrisch-deutschen Abjad-Bildungsinitiative, und Dr. Nidal Zarifeh, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen, sind dabei.

Die Podiumsdiskussion umfasst Bishar Najjar, syrischer Influencer, Aya Alwais von der Universität Bremen, Aladdin Abdin von der Abjad Bildungsinitiative und Dr. Nidal Zarifeh von der Universität Duisburg-Essen.
Die Podiumsdiskussion umfasst Bishar Najjar, syrischer Influencer, Aya Alwais von der Universität Bremen, Aladdin Abdin von der Abjad Bildungsinitiative und Dr. Nidal Zarifeh von der Universität Duisburg-Essen.

Die Ankunft der ersten syrischen Geflüchteten ist fast zehn Jahre her. Was mit Facebook-Seiten wie „Studium und Leben in Deutschland“ oder kleinen lokalen Gruppen wie der Studierendengruppe der Universität Duisburg-Essen begann, entwickelt sich nun zu einer bundesweiten Initiative. Diese Entwicklung fällt zusammen mit der Tatsache, dass viele Syrer die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen. Sie erkennen, dass Deutschland nicht nur eine Zwischenstation sein kann, bis sich die Bedingungen in der Heimat verbessern und eine Rückkehr möglich wird, sondern eine neue Heimat. Im Jahr 2023 werden 75.500 Syrer die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben und damit die größte Gruppe der Eingebürgerten in Deutschland stellen.

„Organisierte Individuen als ein Alptraum für totalitäre Regime“

Bashar Najjar, ein syrischer Influencer, betont die Bedeutung von solche Verbände. „Selbst die scheinbar langweiligen bürokratischen Details sind wichtig“, sagt er. „Wir beschweren uns oft über Bürokratie, aber sie ist notwendig.“ Deutschland könne den Syrern demokratische Erfahrungen vermitteln, die ihnen in Syrien verwehrt blieben.

Najjar hat in Syrien Wirtschaft studiert und anschließend in Frankreich seinen Master gemacht. „In Syrien gab es keine unabhängigen Studentenorganisationen“, sagt er. Autoritäre Staaten wollen nicht, dass sich ihre Bürger organisieren. „Wenn die Bürger lernen, sich selbst zu organisieren und Verantwortung zu übernehmen, wird es schwieriger, ihnen eine Diktatur zu verkaufen“, sagt Najjar.

Bisher Najjar ist ein bekannter syrischer Influencer.  Er hat einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften und einen Master in Sales uns Distribution von der IAE Saint-Étienne.
Bisher Najjar ist ein bekannter syrischer Influencer. Er hat einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften und einen Master in Sales uns Distribution von der IAE Saint-Étienne. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Die syrischen Studierenden haben zwei Identitäten

Viele syrische Studierende in Deutschland tragen heute sowohl eine deutsche als auch eine syrische Identität in sich. Dies gilt insbesondere für die jüngeren Studierenden, die ihre prägenden Jahre hier verbracht haben. Die Gründer der neuen Organisation erkennen diese komplexe Identität an. Ihr Ziel ist es, sowohl mit Syrien als auch mit Deutschland positiv zu interagieren, ohne die eigene Identität zu verleugnen oder sich zu isolieren.

Die syrischen Studierenden heben die Hand, als Bishar Najjar fragt: „Wer von euch kam nach vor 2017 nach Deutschland und ist unter 30?“
Die syrischen Studierenden heben die Hand, als Bishar Najjar fragt: „Wer von euch kam nach vor 2017 nach Deutschland und ist unter 30?“

Im Rahmen des Gründungsprogramms der Union stellt Aya Alwais ihre Studie „Die Identität von Syrern in Deutschland: Veränderungen und Einflussfaktoren“ vor. Alwais ist Wissenschaftlerin an der Universität Bremen. Ihre Forschung zeigt, dass Migration einen starken Einfluss auf die Identitätsentwicklung hat. Dabei kann das Festhalten an der ursprünglichen Identität zu einem positiven Selbstbild beitragen. In diesem Zusammenhang spiele die Zeit eine wichtige Rolle bei der Aneignung der Identität des Gastlandes.

Aya Alwais ist Doktorandin an der Bremen International Graduate School of Social Sciences und arbeitet zur Identitätsentwicklung von Syrern in Deutschland und der Türkei.
Aya Alwais ist Doktorandin an der Bremen International Graduate School of Social Sciences und arbeitet zur Identitätsentwicklung von Syrern in Deutschland und der Türkei.

„Wie ein Fallschirmsprung in ein Strategiespiel“

Die Migranten brauchen Jahre harter Arbeit, um die Vorteile zu erlangen, die ein Kind in seinem Heimatland bei der Geburt erhält. „In unseren Heimatländern kannten wir viele Menschen und hatten ein großes Wissen. Wir kannten den Bäcker, den Schmied und den Arzt. Wir kannten die Universitäten und das Bildungssystem. Aber in der Fremde müssen wir bei Null anfangen“, sagt Bishar Najjar, der syrische Influencer.

Für Najjar war die Flucht wie ein „Fallschirmsprung in ein Strategiespiel“, sagt er. „Am Anfang ist alles dunkel, aber mit jedem Schritt wird das Licht heller und die Karte größer.“ Najjar ist überzeugt, dass ähnliche Gemeinschaften helfen können, die Karte zu vergrößern und die Anpassungszeit zu verkürzen.

Diese Erfahrung teilt auch Qussai Shikh Suliman, der an der Universität Duisburg-Essen Wirtschaftsinformatik studiert hat. Er erklärt: „Es war sehr hilfreich, dass es hier an der Uni viele syrische Studierende gibt. Wir haben eine WhatsApp-Gruppe mit über 400 Studierenden. Da bleibt kaum eine Frage unbeantwortet.“ Shikh Suliman möchte diese Unterstützung anderen Studierenden in ganz Deutschland anbieten, auch wenn sie in einem kleinen Dorf studieren.

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Die Union als Mini-Heimat

Die Fachschaft erleichtert das Studium und vertritt die Interessen der Studierenden. Außerdem hat sie eine wichtige psychologische Bedeutung. Die Heimat zu verlassen, sei schwer, aber vertrieben zu werden, sei traumatisch, vergleicht Najjar. Es treffe einen unerwartet, „wie ein unerwarteter Schlag in die Magengrube und die Muskeln sind nicht angespannt“, sagt Bisher Najjar.

Im Exil „geht man durch fremde Straßen und merkt, dass man nichts kennt. Die Bäume sind fremd, die Straßen bedeuten nichts, die Gebäude tragen keine Erinnerungen in sich“. Najjar bezieht sich auf die Studie „Trauma, Nostalgie und Trauer in der Migrationserfahrung“. Darin wird Vertreibung als sozialer Schock beschrieben. Der Einzelne wird aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissen und muss woanders neu anfangen. Najjar ist überzeugt, dass solche Vereine die Trauer lindern und alternative Mini-Heimaten schaffen können.

Qussai Shikh Suliman Absolvent der Wirtschaftsinformatik an der Universität Duisburg-Essen und Vorstandsvorsitzender der Syrischen Studierenden Union in Deutschland.
Qussai Shikh Suliman Absolvent der Wirtschaftsinformatik an der Universität Duisburg-Essen und Vorstandsvorsitzender der Syrischen Studierenden Union in Deutschland. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Qussai Shikh Suliman hebt die Vorteile des Verbandes für seine Mitglieder hervor: Vernetzung, Information und Interessenvertretung. Die Unterstützung durch die Mehrheitsgesellschaft und die Regierung sei notwendig. Besonders Initiativen, die sich als Teil der deutschen Gesellschaft verstehen und entsprechend handeln, sollten gefördert werden. „Der Erfolg dieser Initiativen legt den Grundstein für weitere Projekte, die für den Zusammenhalt wichtig sind“, so Shikh Suliman.

„Wenn Migranten demokratische Strukturen übernehmen und lernen, sich zu organisieren, profitiert insbesondere das Land und die Gesellschaft, in der sie leben.“

Qussai Shikh Suliman
Vorstandsvorsitzender der Syrischen Studierenden Union in Deutschland
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