Essen-Nordviertel. Ehemalige Beschäftigte der EVAG-Straßenbahn-Werkstatt erinnern sich an Zeit, als Essener Verkehrs-AG wie eine Familie war. Anekdoten von früher.
Der 86-jährige Kurt Genschow erkennt sich auf einem 70 Jahre alten Foto: „Ich hocke vorne. Mein Gott, da war ich noch jung.“ Es ist ein Blick zurück in eine Zeit, als viele Essener noch kein Auto hatten und mit Bus und Bahn fuhren. In der Straßenbahn-Werkstatt der Essener Verkehrs-AG waren harte Arbeit und Verstand, kräftige Burschen und pfiffige Köpfe gefragt. Man konnte richtig Karriere machen. Einer schaffte es vom Lehrling bis zum Vorstandsmitglied. Bei der EVAG waren sie eine große Familie. Lange her das alles.
Erinnerungen an Süddeutsche Eisenbahn-Gesellschaft
Zweimal im Jahr treffen sich die ehemaligen Straßenbahn-Werkstatt-Mitarbeiter. Theo Baumann und Wolfgang Raitz haben in die Borbecker Dampfbierbrauerei eingeladen. Man prostet sich zu, dann wandert das alte Foto von Hand zu Hand. Es wurde beim Dienstjubiläum von Georg Lütchen aufgenommen. Vermutlich das vierzigste, so genau weiß das keiner mehr. Der Jubilar steht in der Mitte, schick mit Krawatte, er wird eingerahmt von zwei Kolleginnen.
Aufgenommen wurde das Bild in der Elektrowerkstatt, sagt der 73-jährige Wolfgang Raitz: „Die meisten der abgebildeten Männer habe ich noch kennengelernt. Die beiden Damen haben übrigens später Kollegen geheiratet.“ Die Auswahl an stattlichen Männern sei ja nicht gerade klein gewesen. Im Jahr 1953 habe es die EVAG noch gar nicht gegeben. Vorläufer war die Süddeutsche Eisenbahn-Gesellschaft AG mit Sitz in Darmstadt. Die Gesellschaft wurde 1954 nach Essen verlagert und in Essener Verkehrs-AG umfirmiert. Heute ist es die Ruhrbahn.
Straßenbahnwerkstatt an Essener Grillostraße
Wolfgang Raitz beschreibt, was für ein riesiger Komplex die Straßenbahnwerkstatt an der Grillostraße war. Hier wurden die Straßenbahnen gewartet, repariert und überarbeitet. Es gab Schmiede, Dreherei, Elektrowerkstatt, Lehrlingswerkstatt und Straßenbahn-Hauptlager. Separat untergebracht waren Lackiererei und Schreinerei. Dazu gab es Nebenräume mit der Sattlerei und einer Klempnerei.
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Aufgegeben wurde die Werkstatt Anfang der 1970er-Jahre. Maschinen und Mitarbeiter zogen zum modernisierten Standort an der Schweriner Straße um. Am alten Standort Grillostraße entstand der RWE-Campus. Heute befindet sich dort eine Kindertagesstätte.
Der gelernte Maschinenschlosser Kurt Genschow war später Vorhandwerker und erinnert sich: „Geburtstage und Jubiläen wurden damals kräftig gefeiert. Wir hatten ja alle noch kein Auto.“ Raitz wirft ein: „Der Krieg mit seinen Gräueln war gerade vorbei. Viele der auf dem Foto Abgebildeten waren Soldaten gewesen, viele kehrten erst Anfang der 1950er aus der Kriegsgefangenschaft zurück.“ Genschow nickt: „Da war noch ein ganz anderer Zusammenhalt. Freundschaften entstanden, die bis heute halten.“
Vom Lehrling zum Arbeitsdirektor der EVAG
Sogar einen Werkstatt-Kegelclub habe es gegeben. Was Claus Hagner auf den Plan ruft: „Da ging es immer hoch her. Ich weiß noch, dass der Pudelkönig in Schürze kegeln musste. Jetzt treffen wir uns nur noch zum Essen.“ Der 66-jährige Karnaper erinnert sich: „Zunächst habe ich bei der Straßenbahnreparatur gearbeitet. Dann habe ich meinen Meister gemacht, bin später in die Verwaltung gewechselt und war zum Schluss Abteilungsleiter Einkauf. Das ist aber nichts gegen den Siggi.“
Siegfried Voß lehnt sich entspannt zurück: „Ich war über 50 Jahre dabei. Als 14-Jähriger habe ich meine Lehre zum Elektro- und Fernmeldemechaniker begonnen, wurde dann Kfz-Elektriker, bin Vorabeiter geworden. Irgendwann saß ich im Betriebsrat und habe den später als Vorsitzender geleitet.“ Der 77-Jährige lächelt: „Und dann bin ich Arbeitsdirektor der EVAG geworden.“ Was für eine Karriere. Aber sein Lächeln schwindet: „Die EVAG war mal eine große Familie. Das ist aber im Laufe der Zeit auseinander gedriftet.“
EVAG-Lehrling von 1963 erinnert sich
Wolfgang Raitz fing in den 60er-Jahren als Lehrling an: „Nach meiner Lehre begann die Umrüstung der Fahrzeuge auf den schaffnerlosen Einmannbetrieb. Hierzu wurden automatische Türen und Entwerter eingebaut. Tausend Schaffner und Schaffnerinnen wurden dadurch arbeitslos. Das war uns gar nicht bewusst damals.“ 1972 ging’s auf die Technikerschule: „Wir haben dann die Stadtbahnwagen M6 und M8 gebaut, auch den Typ N für die Normalspur. Da kann die EVAG stolz drauf sein.“ Raitz studierte noch Betriebswirtschaft und wurde Vorstandsassistent im Einkauf. Nach 50 Jahren EVAG ging’s in den Ruhestand.
Sein Kumpel Theo Baumann hatte 1955 angefangen, machte den Meister, ging auf die Technikerschule, leitete die Straßenbahnwerkstatt und stieg dann in den U-Bahnbau ein. Der 81-Jährige erinnert an ein wichtiges Datum: „In Essen fuhr die erste Straßenbahn am 23. August 1893, also vor 130 Jahren.“ Ob die Ruhrbahn davon weiß? Theo Baumann und Wolfgang Raitz zweifeln. Doch bei einem sind sie sicher: „Der eine oder andere wird auf dem Bild von 1953 seinen Großvater oder Urgroßvater wiedererkennen. Wer Fragen hat oder Informationen, kann sich gerne bei uns melden.“ Sie sind unter theodorbau@aol.com und wolfgang_raitz@web.de zu erreichen.
Einladung zum nächsten EVAG-Treffen
Die beiden laden auch ein zum nächsten Treffen: „Wir würden gerne nicht nur Straßenbahner begrüßen, sondern Rentner und zukünftige Rentner aus allen EVAG-Werkstattbereichen, auch diejenigen, die mal bei der EVAG gelernt haben und ihren beruflichen Werdegang dann woanders fortsetzten. Die EVAG war schließlich eine große Familie.“ Das Treffen findet statt am Mittwoch, 27. September, ab 16 Uhr in der Borbecker Dampfbierbrauerei.