Essen. Beim Thema Barrierefreiheit gibt es in Essen noch Potenzial. Ein Rollstuhlfahrer erklärt, warum seine Umgebung für ihn eine Katastrophe ist.
Treppen statt Rampen, Gehwegparken und taktile Gehwegsteuerung, die direkt vor einem Stromkasten endet: Beim Thema Barrierefreiheit gibt es in Essens Stadtbezirken noch Potenzial. In einigen Stadtteilen sind bereits Inklusionsbeauftragte im Einsatz. Ganz im Norden stellt Rollstuhlfahrer Heinz-Dieter Weinert dem Stadtteil Karnap ein schlechtes Zeugnis aus: „Es ist eine Katastrophe.“
Direkter Weg zum Supermarkt führt über Parkplatz
Schritt halten ist kaum möglich mit dem 69-Jährigen, der in einem motorisierten Rollstuhl sitzt und sein Gefährt gut im Griff hat. Vom Karnaper Marktplatz kommend fährt er - mit einem Becher Kaffee in der einen und seinem Steuerhebel in der anderen Hand - quer über den Parkplatz. „Das ist der direkte Weg vom Marktplatz zu Rewe.“ Allerdings nicht der sicherste. Neben Auto-Verkehr spielt sich hier auch die Anlieferung für den Supermarkt ab, ein Brathähnchenwagen-Fahrer bringt sein Gefährt in Stellung und dazwischen laufen Einkaufende zu Fuß Richtung Eingang, schieben Eltern ihre Kinder im Buggy und auch Hunde werden hier Gassi geführt. Was fehlt, ist eine direkte Wegführung für Fußgänger.
Vorgesehen ist, dass Fußgänger erst den buckeligen Bürgersteig auf der anderen Seite und dann den Zebrastreifen nutzen, das tun jedoch nur wenige. Wer doch diesen Weg geht, muss Glück haben, nicht auf die taktile Rillen-Führung angewiesen zu sein. Diese endet genau vor einem Stromkasten. Und Glück brauchen Rollstuhlfahrer, jene mit Rollator oder etwas breiteren Kinderwagen auch, wenn sie dann von dieser Seite den Supermarkt-Eingang ansteuern. Zwischen Fahrradständern und Bistrostühlen bleiben keine 1,50 Meter Platz, wenn Zweiräder dort abgestellt sind. „Ein hochwertiges Fahrrad stellt man hier nicht ab“, sagt Markus Spitzer-Pachel, Bezirksvertreter der Grünen in der Bezirksvertretung V - zuständig für Altenessen, Karnap und Vogelheim. Er setzt sich dafür ein, dass eine Inklusionsbeauftragte bald zentrale Ansprechpartnerin für solche Probleme ist.
Stufenlose Zugänge zu wichtigen Einrichtungen
Unterstützt wird er vom Karnaper Bürgerbündnis. Deren Vertreter haben bereits einige schwierige, aber auch gut gelöste Stellen aufgelistet und an die Politik geschickt. „Positiv sind die stufenlosen Zugänge zu Supermärkten, Apotheken, zum ÖPNV, neuerdings auch zur Sparkasse“, erklärt Thorsten Kaiser, Vorsitzender des Bürgerbündnisses. Er will mit seinem Team jetzt Befragungen im Stadtteil durchführen, um weitere Schwachstellen identifizieren.
Eine Schwachstelle ist nicht zu übersehen: Wenige Meter von der neuen Mitte, an der Karnaper Straße 100, lädt das Bürgerzentrum Kabüze zu Beratungen, Kreativtreffs, Kinder-Krabbelgruppen, interkulturellen Begegnungen und Seminaren ein. Der Weg führt allerdings über fünf Steinstufen. Ausgeschlossen werden soll niemand, wer Hilfe braucht, bekommt diese. Heinz-Dieter Weinert hat für solche Fälle einen Krückstock an seinem Rollstuhl, das Team des Bürgerzentrums helfe ihm die Stufen hinauf. Gleiches gilt für das Ärztehaus direkt gegenüber, auch dort führen Treppen zum Eingang. „Wir brauchen viel mehr Rampen und sich selbst öffnende Türen“, fordert Weinert und findet beim Bürgerbündnis und auch bei Spitzer-Pachel offene Ohren.
Themen wie diese sollen bald auf der Tagesordnung der Bezirksvertretung landen - und zwar nicht nur im Norden der Stadt. In den Bezirken I und III gibt es bereits Inklusionsbeauftragte. Die Probleme sind überall ähnlich. Auch das Bürgerzentrum in Frohnhausen ist nicht barrierefrei und in Rüttenscheid gab es zuletzt erhebliche Probleme mit dem Thema Gehwegparken. „Das ist gar keine Böswilligkeit, sondern eher Gedankenlosigkeit“, ist sich Sabine Porrmann sicher.
Die 57-jährige Huttroperin ist seit Anfang des Jahres Inklusionsbeauftragte in Bezirk I und möchte, dass Inklusion mehr mitgedacht wird: „Im Idealfall muss man gar nicht über Menschen mit Handicap reden, sondern sie sind einfach gleichberechtigter Teil der Gesellschaft.“ In den vergangenen Jahrzehnten sei diesbezüglich viel passiert, dennoch sei der Weg weit. In Huttrop und der Innenstadt gebe es - wie im kompletten Stadtgebiet - Probleme wie Stolperstellen, mangelnde taktile Wegweiser, Treppen statt Rampen und auch zu wenig barrierefreien Wohnraum, erklärt Porrmann. Nicht immer könne die Bezirksvertretung an den entscheidenden Stellschrauben drehen, es sei jedoch wichtig, das Bewusstsein zu schärfen und Begegnungen zu schaffen. Porrmann: „Manchmal gibt es mehr Barrieren im Kopf als auf der Straße.“