Essen. Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, kam Kai Gehring in den Bundestag. Sie hört auf, er macht weiter. Serie Essener Kandidaten zur Bundestagswahl.

Seine sozialwissenschaftliche Diplomarbeit umfasste einst 120 Seiten, und sollte sich – was ja in Mode gekommen ist – jemand die Mühe machen, dort nach Plagiaten suchen zu wollen, dann könnte dieser Jemand bei der Gelegenheit gleich nach jenen Zeilen fahnden, die Kai Gehring letztlich in die Politik getrieben haben.

Denn Zufall kann das wohl kaum sein, dass der junge Mann aus Werden einst die „Nachwuchsförderung politischer Parteien“ wissenschaftlich unter die Lupe nahm und schon wenige Jahre später die allzu graue Theorie auf ihre grüne Praxistauglichkeit hin überprüfte: 2005 kandidierte Gehring als 27-Jähriger zum ersten Mal erfolgreich für den Bundestag, es war das Jahr, als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde, und wenn diese in einigen Wochen aus dem Amt scheidet, macht er einfach weiter: Platz 16 auf der grünen NRW-Landesliste scheint dafür komfortabel genug.

Vier Bundestags-Perioden „Warmlaufen“ für das, was er sich jetzt in Berlin erhofft

Obwohl Gehring damit länger im Parlament ist als die meisten seiner Bundestags-Kollegen bleibt er unter jenen, die in Essen aussichtsreich kandidieren, kurioserweise immer noch der Jüngste. Das sagt einiges über die erwähnte politische Nachwuchsförderung aus, aber nicht über die politische Arbeit selbst, findet Gehring: „Es ist ja kein Wert an sich, lange dabeizusein.“ Immerhin hat er in all den Jahren erleichtert die Erkenntnis gewonnen, „dass man auch aus der Opposition heraus einiges erreichen kann“, zumal wenn sich die Politik bei wichtigen Themen fraktionsübergreifend unterhakt. „Handwerk zählt“ – und doch mag Gehring eine bittere Erfahrung nicht verschweigen, die er selber kaum mehr hören mag, „weil sie so abgedroschen klingt: Politik ist, dicke Bretter zu bohren.“

Etwa Ideen zum Klimaschutz zu unterbreiten und dann Jahr um Jahr um Jahr zu erleben, wie aufgeschoben und „zerredet wird, weil das alles vermeintlich so teuer ist“. Oder Digitalisierung so zu erleben, dass auch der Online-Antrag zum BAföG am Ende noch ausgedruckt werden muss. Dass man in 16 Jahren dennoch nicht die Lust an diesem Beruf verliert, hängt für Gehring damit zusammen, dass da auch Berufung mit im Spiel ist. Und wohl auch, dass er für Rot-Grün im Bund zu spät nach Berlin kam und seither eine Sportart gefragt war, die er „Warmlaufen für Regierungsphasen“ nennt.

Die größten Blütenträume sind ausgeträumt, Gehring will „mutig, nicht übermütig“ sein

Diese Phase sieht Gehring jetzt gekommen: Die eigene, die grüne Delle mit Blick auf die Fettnäpfchen von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sieht er längst überwunden: „Ich empfinde eine Wechselstimmung“, und wenn Gehring auch angesichts der Umfragen nur „mutig und nicht übermütig“ sein will – man weiß ja nie, mit wem es demnächst ans Regieren gehen könnte – schwant ihm schon lange: Für die Christdemokraten „gibt das ‘ne Klatsche.“ Was übrigens nicht automatisch bedeutet, dass er an die Sozialdemokraten Geschenke verteilen möchte, die SPD regierte schließlich (mit einer vierjährigen Pause) über 19 Jahre hinweg mit.

Selbst über 20 Prozent zu holen, diese Blütenträume sind für die Grünen nach den jüngsten Umfragen zwar ausgeträumt, dennoch werde die Wahl „spannend wie nie“, weil im Ausgang „offen wie nie“: „Ich merke, dass viele mit sich ringen“, sagt Kai Gehring, als hätten sie’s geahnt, als der Wahlspruch des Grünen-Programms entstand: „Alles ist drin.“ (woki)