Essen. Steffen Hunder hat schon in Discos und Straßenbahndepots Gottesdienste gefeiert. Die Rettung der Kreuzeskirche bleibt sein größtes Verdienst.
Wer auf sein Lebenswerk blickt, der könnte auf die Idee kommen, Pfarrer Steffen Hunder sei in den vergangenen Jahren vor allem mit der Kirche verheiratet gewesen. So agil und engagiert, so kreativ und ideenreich hat der Essener Innenstadt-Pfarrer für die evangelische Kirche geworben, dass selbst die stichwortartige Aufzählung aller Aktivitäten vom Musical-Gottesdienst bis zur Krimilesung schon Spalten füllt. Doch die Kirche war für Hunder eben nicht nur Anstifter, sondern auch Ehestifter. Zusammen mit seiner Ehefrau, der Kettwiger Pfarrerin Gudrun Wessling-Hunder hat der 64-Jährige in den vergangenen 35 Jahren Kirche in Essen geprägt und verändert. Und so unterschiedlich die Berufswege von Pfarrerin und Pfarrer in den vergangenen Jahrzehnten dabei auch verlaufen sind: Nach Pfingsten gehen beide gemeinsam in den Ruhestand.
Begonnen hat der gemeinsame Weg schon während des Studiums in Bonn und Göttingen. Die beiden heiraten noch vor dem Abschluss, bekommen im Laufe der Jahre sechs Kinder und werden in Essen sesshaft, als Hunder 1985 als Hilfsprediger in die Kirchengemeinde Essen-Altstadt kommt, wo man ihn ein Jahr später zum Pfarrer im Bezirk Mitte wählt. Die Gemeinde in der Nordcity erlebt früher als viele andere Kirchengemeinden, was passiert, wenn immer mehr Menschen der Kirche fern stehen und Veränderung gefordert ist.
„Wir waren die erste Gemeinde, die so radikale Schritte machen musste“
Die Kreuzeskirche, von 1895 bis 1896 groß gebaut, als noch 20.000 Gemeindemitglieder im Einzugsbereich leben, zählt Mitte der 1980er nur noch 3000 Protestanten. Drei von fünf Kirchenimmobilien der ältesten evangelischen Gemeinde Essens werden im Laufe der Zeit aufgegeben und teils umgewidmet. „Wir waren damals die erste Gemeinde, die so radikale Schritte machen musste“, sagt Hunder. Damit nicht genug: Die Bausubstanz der Kreuzeskirche ist extrem marode. Anfang der 1990er Jahre errechnet ein Gutachter einen millionenschweren Sanierungsbedarf. Einige Gemeindemitglieder füllen gottergeben Lottoscheine aus, doch Hunder ist klar: „Das kriegen wir nicht mit Bordmitteln hin, wir brauchen Partner!“
Partner gibt es am Ende viele. Das Forum Kreuzeskirche wird gegründet und der Bauverein. Das Land NRW ist mit Fördermitteln dabei. Am Ende ist es aber die Millionen-Spende des Essener Kreativ-Unternehmers Reinhard Wiesemann und das Engagement des Bau-Unternehmers Rainer Alt als neuer Eigentümer, die das Wunder möglich machen.
Kirchenfenster des Pop-Art-Künstlers James Rizzi sind eine Attraktion
2014 wird die sanierte Kreuzeskirche wiedereröffnet, ist heute ein Ort für Glauben und Wissenschaft, Konzert, Feier und Dialog; und dank der weltweit einzigen knallbunten Kirchenfenster des New Yorker Pop-Art-Künsters James Rizzi sogar ein Anlaufziel für internationale Kunstfreunde – mitten in der Nordstadt, wo man längst nicht mehr nur mit dem Bedeutungsverlust von Kirche zu kämpfen hat, sondern mit Leerstand, sanierungsbedürftigen Immobilien und wachsender Clankriminalität. Hunder blickt mit ein wenig Sorge, aber auch mit Zuversicht auf die Entwicklung im Viertel. Er glaubt weiter an den Wandel und daran, dass Kirchen „wichtige Player in der Urbanisierung einer Stadtgesellschaft“ sind.
„Meinen Mann zeichnet aus, dass er Visionen hat und nie aufgibt“, sagt Gudrun Wessling-Hunder. Während Steffen Hunder über die Jahre zum präsenten „Mister Kreuzeskirche“ wird, indem er die frohe Botschaft auch schon mal vor Mikros und Fernsehkameras verbreitet, übernimmt seine Frau als Pfarrerin die theologische Basisarbeit. Zunächst in Kray, wo sie ihr Vikariat versieht, später im Sonderdienst in Schonnebeck, und schließlich in Kettwig, wo sie 2015 ihre erste gewählte Pfarrstelle antritt. Das große Amt habe ihr nicht gefehlt, versichert sie. „Ich habe einen anderen Schwerpunkt gesehen.“ Sie arbeitet mit Konfirmanden, Senioren, in der Frauenhilfe und im sozialen Dienst. Gemeinsam sehen sich die Hunders als „die zwei Seiten von Kirche“. Die eine kümmert sich um die seelsorgerische Arbeit vor Ort. Die andere sorgt für neue Perspektiven und eine stärkere Außenwahrnehmung.
Es gibt Gottesdienste in der Großdisco und im Straßenbahndepot
„Dahin gehen, wo die Menschen sind“, lautet Hunders Motto. Und er findet viele Wege. Nicht allen habe das gefallen, weiß der Altstadt-Pfarrer. Er kennt Bonmots wie das: „Der Hunder hat schon jeden Ort der Stadt getauft.“ Nicht jeden zwar, aber doch viele. Hunder veranstaltet Gottesdienste in der Essener Musikpalette wie im Straßenbahn-Depot. Die Bochumer Großdisco Prater bietet ihm Raum für Liturgie wie im GOP-Varieté. Und für den erste Musical-Gottesdienst holt er Stars der damaligen Duisburger Großproduktion „Les Miserables“ in die Kreuzeskirche.
Hunder kennt keine Schwellenängste und er will sie umgekehrt auch den Menschen nehmen. Dafür soll die Kreuzeskirche nach Corona ihre Türen wieder weit öffnen – für Gottesdienstbesucher, aber auch für Partygäste und Kunstinteressierte. Die aktuelle Ausstellung zeigt ausgewählte Mandalas von Steffen Hunder. Eine ungewohnt stille, meditative Beschäftigung, die er als Rentner nun auch in Workshops weitergeben will. Mit den Betreiberin im Alten Bahnhof Kettwig hat er schon Kontakte geknüpft, auch das beliebte Format Krimicouch soll künftig an seinen Kettwiger Wohnort umziehen.
Die Essener Altstadt-Gemeinde, zu der auch die Auferstehungskirche gehört, bleibt weiter im Wandel. Hunders Stelle wird vorerst nicht mehr besetzt. Bevor auch Pfarrer Thomas Nawrocik in einigen Jahren in den Ruhestand geht, wird Barbara Montag den Zwischenprozess im Rahmen eines „Pastoralen Dienstes im Übergang“ für anderthalb Jahre begleiten.