Essen. Als Anwohner der Gladbecker Straße weiß Reinhard Schmidt, was Verkehrsprobleme im Essener Norden bedeuten. Der Stadt wirft er Versäumnisse vor.

Reinhard Schmidt würde sich wohl selbst nicht als Lokalpatrioten beschreiben. Der 58-Jährige Stadtplaner kann aus professioneller Sicht beurteilen, was in Altenessen so alles schief gelaufen ist. Und doch wohnt er direkt an der Gladbecker Straße. In einem Haus, in dem schon sein Großvater gewohnt hat. Reinhard Schmidt wollte nie von hier wegziehen und hat das auch nicht vor. Sein Haus ist eingerüstet, die rußgeschwärzte Fassade bekommt einen neuen Anstrich. Es wirkt wie ein Bekenntnis zu diesem Stadtteil, der für viele nur Durchgangsstation auf dem Weg zur Arbeit ist.

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Reinhard Schmidt braucht nur aus dem Fenster zu sehen und hat es vor Augen: 45.000 Fahrzeuge rollen jeden Werktag an seinem Haus vorbei. Das Verkehrsaufkommen ist längst am Limit. Wer daran zweifelt, bekam es von der Stadtverwaltung jüngst schwarz auf weiß, als die Politik über die Bebauung des ehemaligen Milchhofes Kutel diskutierte. Bis zu 200 Wohnungen sollen auf dem brachliegenden Areal am Palmbuschweg entstehen, dazu Gewerbe, Büros und ein Hotel. Verkehrsplaner rechnen mit bis zu 8450 zusätzlichen Autofahrten täglich. Dabei sei das Straßennetz bereits teilweise überlastet. Gebaut werden soll trotzdem.

Augen zu und durch: Jeden Tag quälen sich rund 45.000 Verkehrsteilnehmer über die Gladbecker Straße in Essen.
Augen zu und durch: Jeden Tag quälen sich rund 45.000 Verkehrsteilnehmer über die Gladbecker Straße in Essen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Für Reinhard Schmidt passt das ins Bild. Die Stadt verfahre nach dem Motto: Augen zu und durch. Ein Verkehrskonzept für den Essener Norden gebe es bis heute nicht. „Es brummt eben“, sagt Schmidt und meint den täglichen Stau vor seiner Haustür. Dabei beschreibt schon das 1992 vom Rat der Stadt beschlossene „Städtebauliche Rahmenkonzept“ für Altenessen-Süd vieles, was heute noch drängt. „Auch unter Beibehaltung des Verkehrsnetzes sollen die bestehenden Straßen für alle Nutzer so erträglich wie möglich gestaltet werden“, steht dort zu lesen.

So erträglich wie möglich? Es sei zu erwarten, dass die Verkehrsbelastung noch weiter zunimmt – durch die A 52 im Norden, durch den Ausbau der A 40 auf sechs Spuren, durch die Erschließung des Entwicklungsgebiet „Freiheit Emscher“ und durch den Verkehr aus dem Industriegebiet Econova, so Schmidt.

Tempo 30 hat unter anderem an Kindergärten Priorität wie hier an der Altenessener Straße. Den Antrag der SPD, Tempo 30 auch an „Lärm-Hotspots“ zu prüfen, lehnte der Umweltausschuss ab.
Tempo 30 hat unter anderem an Kindergärten Priorität wie hier an der Altenessener Straße. Den Antrag der SPD, Tempo 30 auch an „Lärm-Hotspots“ zu prüfen, lehnte der Umweltausschuss ab. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Auch die Politik hat das offenbar erkannt. Ein Antrag der SPD, die Verwaltung möge prüfen, ob an „Lärm-Hot-Spots“ Tempo 30 ausgeschildert werden könnte, wurde im Umweltausschuss des Stadtrates aber von der politischen Mehrheit abgelehnt. Die Verwaltung verwies auf einen neuen „Lärmaktionsplan“. Der soll im kommenden Jahr vorgelegt werden und dann auch den Lkw-Verkehr realistisch abbilden, was bislang nicht der Fall ist.

„Ruhige Gebiete“ gibt es laut Lärmaktionsplan im Essener Norden nicht

Auch der Vorstoß der SPD, die Stadt möge im Essener Norden sogenannte „ruhige Gebiete“ ausweisen, die besonders vor Lärm zu schützen wären, lief ins Leere. Per Definition müssen solche Gebiete mindestens drei Hektar groß sein, der Lärm darf dort heute schon 55 Dezibel nicht übersteigen. In der Praxis führen diese Kriterien aber dazu, dass im dicht bebauten nördlichen Essen kein einziges dieser Gebiete zu finden ist, beklagt die SPD, die anregte, einen kleineren Maßstab anzulegen.

„Ruhige Gebiete“ auszuweisen, würde aber auch bedeuten, dass dort nicht mehr gebaut werden dürfte, gab Simone Raskob, städtische Beigeordnete für Umwelt und Verkehr, zu bedenken. Gerade im Norden würde die Stadt sich jeder städtebaulichen Entwicklung berauben.

Fahrradfahren kann in Altenessen abseits von Nebenstraßen gefährlich sein.
Fahrradfahren kann in Altenessen abseits von Nebenstraßen gefährlich sein. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Es bleibt also alles wie es ist. Eine Antwort auf die Frage, wie das Verkehrsproblem gelöst werden soll, lässt weiter auf sich warten. Dafür feierte die Stadt jüngst einen neuen Radweg an der Zangenstraße, dessen zweiter Bauabschnitt gerade beschlossen wurde. Warum erst jetzt? Schon vor 30 Jahren war davon die Rede, kritisiert Reinhard Schmidt. Eine Nord-Süd-Achse für den Radverkehr gibt es aber bis heute nicht und auch keine vernünftige Anbindung an die Innenstadt. Die Verwaltung spricht vom Ausbau der Berne-Route, sieht diesen aber „mittelfristig“. So müssen sich Radfahrer durch Altenessener Wohngebiete schlängeln, wollen sie möglichst sicher ans Ziel kommen.

Aus der Sicht von Reinhard Schmidt doktert die Stadt an Symptomen herum. Als Kardinalfehler bezeichnet der Stadtplaner, dass die Stadt Essen viel zu lange am Ausbau der A 52 durch Norden festgehalten habe und immer noch daran festhält. Obwohl das Projekt im aktuellen Bundesverkehrswegeplan des Bundes, der die drängendsten Straßenbauvorhaben auflistet, nur unter ferner liefen auftaucht – für die Zeit nach 2030.

Den Ausbau der A 52 durch den Essener Norden hält der Stadtplaner für unrealistisch

Wäre die A 52 in den 1970er-Jahren ausgebaut worden, wäre der Stadtteil Altenessen heute ein anderer, ist Schmidt überzeugt. Ein Stadtteil, durchzogen von einer Autobahnschneise. Dass das Projekt noch realisiert werden könnte, nennt Schmidt unrealistisch angesichts von zu erwartenden Kosten jenseits der Milliarden-Euro-Grenze.

Den Lkw-Verkehr würde Schmidt aus der Stadt heraushalten, sofern es sich um Durchgangsverkehr handelt. Wobei offen bleibt, wie das funktionieren soll, wenn Navigationssysteme die Trucker mitten durch Ruhrgebiet lenken. Kontrollen wären wohl notwendig.

„Städtebaulich integrieren“

Aus dem städtebaulichen Rahmenkonzept „Ökologische Erneuerung des Stadtteils Altenessen-Süd“, vom Rat der Stadt 1992 beschlossen:„Da die Altenessener Straße und die Gladbecker Straße ihre Verkehrsbedeutung behalten werden, wird es darauf ankommen, sie städtebaulich besser zu integrieren. Durch eine entsprechende Umgestaltung müssen sie neben den Anforderungen des Individualverkehrs auch den Bedürfnissen der dort Einkaufenden und Arbeitenden, der Anwohner, der Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel oder etwa der Radfahrer angepasst werden.“

Versäumnisse sieht der Stadtplaner im Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. „Die U11 endet vor einem Prellbock in Gelsenkirchen.“ Dabei wäre es seiner Meinung längst angesagt, „die Schiene näher an die Straße zu legen“, in diesem Fall an die B 224 jenseits der Stadtgrenze, um Autofahrer zum Umsteigen zu animieren.

Andere Städte böten Pendlern am Stadtrand große Park & Ride-Stellplätze oder Parkhäuser – so wie die bayerische Landeshauptstadt München gleich an der Allianz-Arena. „Warum ist so was bei uns nicht möglich“, fragt Reinhard Schmidt und vermisst bei den Entscheidungsträgern sowohl politischen Willen als auch Phantasie.