Essen-Rüttenscheid/Holsterhausen. Die Essener Ergotherapiepraxis Neuroplus will den Wert des Therapeutenberufs stärken. Alle drei Chefinnen sind Frauen mit kleinen Kindern.
Zwölf Jahre ist es her, dass Katja Schmidinger (40) und Jessica Günter (40) gemeinsam den Sprung in die Selbstständigkeit wagten. Was beide einte: Sie waren junge Frauen, die das Gefühl hatten, in ihren Angestelltenjobs würde es auf der Karriereleiter ab diesem Punkt nicht weiter nach oben gehen. Damit wollten sich die beiden Ergotherapeutinnen aber nicht begnügen – und gründeten gemeinsam ihre Praxis Neuroplus. Heute leiten sie gemeinsam mit Lea Tiemann (34), der dritten im Bunde, ein großes Team an zwei Standorten in Rüttenscheid und Holsterhausen.
Insgesamt 21 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen die drei Frauen in ihren beiden Praxen an der Rüttenscheider Straße 158 und im Holsterhauser Lukas-K-Haus. Darunter sind nicht nur Ergo-, sondern auch Physiotherapeuten. Pro Tag finden etwa 120 bis 150 Patientinnen und Patienten ihren Weg zu Neuroplus. Behandelt werden unter anderem Menschen mit Multipler Sklerose, Hirnblutungen oder Querschnittslähmung, genauso aber Patienten mit Handverletzungen, Rheuma oder Schlafstörungen.
Essener Ergotherapeutinnen: Psyche spielt eine große Rolle
Nach Angaben der Agentur für Arbeit Ruhrgebiet West arbeiten in Essen aktuell 1268 Physiotherapeuten und 477 Ergotherapeuten. Vor allem Ergotherapie hat sich in den vergangenen Jahren immer stärker als Ergänzung zum bloßen Arztbesuch etabliert. So zeigt beispielsweise eine Studie des Wissenschaftlichen Institutes der AOK, dass 2019 knapp 3,4 Millionen ergotherapeutische Leistungen mit insgesamt 28,1 Millionen Behandlungssitzungen für Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet wurden. Damit ist die Anzahl der ergotherapeutischen Verordnungen gegenüber dem Vorjahr um 8,9 Prozent gestiegen. Was finden Patientinnen und Patienten also dort, was sie anderswo vielleicht nicht finden?
„Bei uns spielt auch die Psyche eine immer größere Rolle“, nennt Schmidinger eine Begründung. Das könne die Mutter betreffen, die zusammenbreche, weil sie die Anzeichen für die Skoliose ihres Teenagers nicht rechtzeitig erkannt habe. Oder der Jugendliche, der mit großen Ängsten zu kämpfen habe, weil er befürchte, infolge der Corona-Pandemie keine Ausbildungsstelle zu finden. „Wir haben Zeit, um den Patienten manchmal auch einfach nur zuzuhören und Tränen wegzuwischen“, betont Günther.
Klar ist allerdings: Diese Zeit haben Therapeutinnen und Therapeuten meist nicht im Rahmen der Behandlungen, die von den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) finanziert werden. Dieses System betrachte man ohnehin nur noch als einen Baustein für die Praxis, erklären die drei Geschäftsführerinnen. Die Basis dafür, ihren Angestellten den Stundenlohn von 18 bis 22 Euro zahlen zu können, schaffe man dagegen selbst.
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Die Praxis bietet viele Behandlungen für Selbstzahler an. Dazu gehören Behandlungen wie zum Beispiel ein warmes Wachsbad für die Hände – zum Beispiel für Rheumapatienten – oder die Anbringung von kinesiologischem Tape, einem elastischen Klebeband, das eine schmerzlindernde Wirkung und eine Stärkung der Muskeln versprechen soll. Solche Behandlungen müssen sich Patienten 55 Euro für die Zehnerkarte beziehungsweise 12 Euro für die Rolle kosten lassen.
„Zu viele Therapeuten arbeiten sich für wenig Geld kaputt“
Entsprechend gibt es auch die Möglichkeit, eine Stunde Physiotherapie für 95 Euro statt der in der GKV-Basisversorgung enthaltenen 20 Minuten zu buchen und selbst zu zahlen. „Zu viele Therapeuten arbeiten sich für wenig Geld kaputt“, betont Tiemann. Und Schmidinger ergänzt: „Wir wollen ihnen vermitteln, wie viel sie leisten. Denn viele Therapeuten kennen ihren Wert nicht.“
Essener Geschäftsführerin: „Frauen führen anders“
Dabei geht es nicht nur um das Finanzielle. „Wir haben immer gesagt: Wir möchten einen Arbeitsplatz schaffen, wo niemand mit Bauchschmerzen hinkommen muss“, sagt Günther. Ob das auch damit zu tun hat, dass alle drei Chefinnen Frauen sind? Klar sei in jedem Fall: „Frauen führen anders“, so Schmidinger. Sie seien oft emotionaler und machten sich mehr Gedanken über verschiedene Themen. Doch genau darin könne auch die Stärke von weiblichen Führungspersönlichkeiten liegen.
„Weibliche Führung ist super, wenn sie ehrlich ist“, sagt Günther. Keinen Sinn mache es, männliche Verhaltensweisen zu kopieren. „Das haben wir wohl alle versucht, als wir angefangen haben. Wir haben uns nie Emotionen erlaubt.“ Dabei dürfe es ruhig auch einmal emotional werden, solange die Hierarchie klar sei, gleichzeitig aber jeder respektiert und auf Augenhöhe behandelt werde.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist wichtiges Thema in Essener Praxis
Besonders die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein wichtiges Thema für die Inhaberinnen von Neuroplus. Alle drei sind Mütter. Schmidingers Kinder sind vier und acht Jahre als, Günthers fünf und zehn und Timanns ein halbes Jahr und drei. Das Credo der Ergotherapeutinnen: „Selbstständigkeit und Kinder geht ganz wunderbar zusammen.“
Das wichtigste sei stets, sich selbst darüber klar zu werden, was man will, erklärt Günther. Und: „Nicht nach links und rechts gucken.“ Dann prallten Fragen wie „Du gibst dein Kind jetzt schon in die Betreuung?“ oder „Wie, dein Mann nimmt Elternzeit und nicht du?“ an einem ab. Der Rest sei eine Frage der Organisation. „Man lernt so auch wunderbar, mal Verantwortung abzugeben“, sagt Günther. „Wir haben hier viele sehr charakterstarke Mitarbeiter, denen wir einen Vertrauensvorschuss gegeben haben.“