Essen. Binnen kürzester Zeit kamen in Essen 5000 Türkeistämmige zusammen. Die aufgeheizte Stimmung bekommen auch Anhänger der Gülen-Bewegung zu spüren.
Dass die Putschnachricht am Freitagabend in Essen in kürzester Zeit 5000 Türkeistämmige mobilisiert hat, überrascht Fachleute nicht. „Weil sie seit 2010 das Wahlrecht in der Türkei besitzen, hat ihr Interesse an der türkischen Innenpolitik eher zugenommen“, sagt Gülay Kizilocak, Türkei-Koordinatorin des in Essen ansässigen Zentrums für Türkeistudien (ZfT). „Die 5000 wollten in erster Linie ihre Solidarität mit der türkischen Republik zeigen.“ In Essen leben insgesamt 22.800 Menschen mit türkischem Pass.
Das Meer roter Fahnen mit Halbmond und Stern sei keinesfalls als Zeichen der Abwendung von Deutschland zu werten. Türkeistämmige der dritten Generation könnten beides: mit Schwarz-Rot-Gold die deutsche Nationalelf bejubeln und mit der Nationalflagge der türkischen Republik für die Demokratie dort demonstrieren.
So sieht es auch Emelek Incirci aus Oelde. Die 28-Jährige ist hier geboren, fühlt sich aber ebenso in der Türkei verwurzelt. „In meiner Brust schlagen zwei Herzen“, sagt sie vor dem türkischen Konsulat in Essen. Unter Türken sei der Zusammenhalt aber größer. Auch weil in Deutschland der Nationalstolz nicht so ausgeprägt sei, sei für viele Türken das Land ihrer Vorfahren immer noch das Größte. Dass auch in Essen viele auf die Straßen gegangen sind, wundert sie nicht. „Es geht darum, Solidarität zu zeigen. Wir waren alle extrem geschockt.“
„Türkische Fahne ist überparteiliches Symbol“
Sinan Kumru (41), Sozialarbeiter, Politikwissenschaftler und für die SPD im Sozialausschuss, lebt seit 1996 in Deutschland. „Die türkische Fahne ist ein überparteiliches Symbol gegen den Putsch“.“ Zu den 5000 Demonstranten hätten nicht nur Erdogan- und AKP-Anhänger gehört, sondern auch Linke.
Das ZfT ermittelt in regelmäßigen Umfragen die Identität der Türkeistämmigen. „Sie sehen sich als Deutsche und fühlen sich gleichzeitig zur Türkei hingezogen“, erklärt Kizilocak. Das Entweder-Oder-Prinzip sei längst einem Sowohl -als-auch gewichen. Überhaupt seien die emotionalen Bindungen zur Türkei nach wie vor stark. „Es ist das Herkunftsland ihrer Eltern“, sagt Muhammet Balaban, der Vorsitzende der Kommission Islam und Moscheen in Essen.
Erdoğans Politik wird gefolgt
Vier Tage nach dem gescheiterten Putsch ist die Stimmung hüben wie drüben aufgeheizt. Das bekommt auch „Ruhrdialog-“Vize Serdar Ablak, ein Anhänger der Gülen-Bewegung, zu spüren. „Ich bin über soziale Medien massiv beleidigt worden, fürchte mich aber nicht vor direkten Angriffen.“ Eine optimistische Prognose wagt auch Wissenschaftlerin Kizilocak: „Die Spannungen in der Türkei werden nicht auf Deutschland übertragen werden.“
Erdogan Bayrak aus Dortmund ist hier geboren, hat aber nur einen türkischen Pass. Er ist daher häufiger in Essen im Konsulat. Er bezeichnet Anhänger der Gülen-Bewegung als die Schuldigen des Putschversuchs. Der 39-Jährige sieht nun eine Chance in der „Säuberung“ aller staatlichen Organe in der Türkei, wie sie Präsident Recep Tayyip Erdoğan propagiert. Bayrak gab ihm seine Stimme, folgt seiner Politik bedingungslos. „Er hält, was er verspricht“, sagt Bayrak. Erdoğan habe soziale Strukturen geschaffen, sei im Gegensatz zu seinen Vorgängern unbestechlich und er habe den Kurden, die nicht der militanten PKK folgen, zu mehr Rechten verholfen. Die tausendfachen Verhaftungen seit Freitag sieht er als gerechtfertigt an: „Ich glaube, dass alle etwas mit dem Putschversuch zu tun hatten.“ Dafür, dass Türken in Deutschland auf die Straße gegangen sind, hat er eine einfache Erklärung: „Wenn es gegen die Nation geht, ist das Volk auf den Beinen.“