Essen. Erstmals wurde John Neumeiers „Matthäus-Passion“ mit dem Hamburg Ballett in der Philharmonie Essen aufgeführt. Der Andrang war riesig - ebenso wie der Applaus. Was vor über 30 Jahren bei der Uraufführung der Matthäus-Passion im Hambuger „Michel“ noch als Skandal galt, zählt heute zu den Kult-Stücken von John Neumeiers Hamburg Ballett.
Die Leidensgeschichte Christi getanzt: Was vor über 30 Jahren bei der Uraufführung der Matthäus-Passion im Hambuger „Michel“ noch als Skandal galt, zählt heute vor allem an den Kar- und Ostertagen zu den Kult-Stücken von John Neumeiers Hamburg Ballett.
Auch in der Philharmonie ließ sich das Karfreitagspublikum von dieser Überführung der Kerngeschichte des christlichen Glaubens in das vermeintlich weltliche Medium Tanz ergreifen. Wie schon Johann Sebastian Bach, dessen monumentale Vertonung der biblischen „Matthäus-Passion“ bereits selbst zwischen der „objektiven“ Schilderung der Leidensgeschichte Jesu im Matthäus-Evangelium und Bachs subjektiver Glaubenserfahrung changiert, so geht auch Neumeier vor allem in dieser Arbeit einen ganz individuellen Weg der Annäherung an diesen Stoff.
Vieldeutiger Tanz
Keine Bebilderung, keine Nacherzählung im Sinne klassischer Passionsspiele. Neumeier greift auf dieses für viele immer noch zentrale Glaubensgeschehen kommentierend zu. So schafft er gleichsam ein vielschichtige Kunstsprache, ähnlich wie in der frühen abendländischen Malerei, als diese sich langsam von der Sakralkunst zu lösen begann. Seine Tanz-Sprache bewegt sich zwischen archaisch-kultischer Haltung und Gestik (oder was wir uns heute darunter vorstellen) und dem Formenkanon technisch ästhetisch anspruchsvoller Tanzkunst. Da sind klassische Ballerina-Zitate ebenso zu finden, wie großartige Eruptionen zu den Turba-Chören oder den Arien und großen Rezitativen der Bach’schen Musik. Deren Aufnahme stammt übrigens aus der Entstehungszeit der Choreografie und wurde 1980 unter Leitung von Günter Jena im Hamburger „Michel“ aufgenommen. Mit Peter Schreier als Evangelisten, Franz Grundheben und Bernd Weikl gehörte die Besetzung damals fast zum „Muss“ bei repräsentativen Aufführungen.
Die Kompanie mit den hier stellvertretend genannten Solisten Silvia Azzoni, Anna Polikarpova aber auch Otto Bubenicek oder Carsten Jung überzeugte - und berührte. Der Christus von Lloyd Riggins (früher tanzte ihn Neumeier selbst) erleidet sein Schicksal beinahe kühl, selbst bei der Geißelungsszene fast schon unwirklich-entrückt, auf der minimalistischen Bühne. Nach kurzer Pause, riesiger, minutenlanger Applaus.
Wie groß das Interesse an John Neumeier und dessen Hamburg Ballett ist, zeigte der große Andrang bereits zur Ballett-Werkstatt am Gründonnerstag. Die moderierte der Ballettchef selbst, trotz eben abgeklungener Grippe. Etwa 3000 Besucher kamen zu Werkstatt und Aufführung.