Essen. Insgesamt 23.000 Flüchtlinge sind in den vergangenen sieben Jahren nach Essen gekommen. Wie Sozialdezernent Peter Renzel diese Krise erlebt hat.

Die Migration von etwa 23.000 Flüchtlingen nach Essen in den Jahren ab 2013 hat die Stadtgesellschaft nachhaltig verändert. Viele Bürger engagierten sich ehrenamtlich in Kleiderkammern, Sprachkursen oder etwa bei Behördengängen als integrative Helfer. Auf der anderen Seite geht durch manche Nachbarschaft, Freundeskreise und Familien seither auch ein tiefer Riss, weil nicht wenige keine Flüchtlinge in ihrer Nachbarschaft oder gar in ihrer Stadt haben wollen.

Lautstark und fast immer sehr emotional wurde dieser Streit auf Bürgerversammlungen ausgetragen, wenn die Stadt Essen etwa über geplante Asylunterkünfte unterrichtete, die sie auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise wie am Fließband schaffen musste. Zeitweise lebten 7000 Menschen in solchen Einrichtungen.

Einer, der bei allen 46 Bürgerversammlungen an vorderster Front stand, um die Pflichten und die Überzeugung der Stadtverwaltung zu erklären und gegen Kritiker zu verteidigen, war Essens Sozialdezernent Peter Renzel. Fünf Jahre nach dem historischen „Wir-schaffen-das“-Satz der Bundeskanzlerin berichtet Renzel im Interview, wie Essen die Flüchtlingskrise bewältigt hat, und wo für ihn persönlich die Grenzen sind.

Herr Renzel, im Jahr 2013 lebten rund 600 Flüchtlinge in Essener Unterkünften, die Stadt verwandelte Schulen in Asylheime, in Frintrop regte sich Widerstand aus der Nachbarschaft und sie erlebten auf Bürgerversammlungen heftige Angriffe. Hätten Sie sich da vorstellen können, dass drei Jahre später fast 6000 Flüchtlinge in Essen leben würden?

Renzel: Wir haben zwar ab 2011 nach und nach wieder mehr Flüchtlinge in Essen gehabt, damals aus dem West-Balkan. Aber nein, es war nicht vorstellbar, was später auf uns zukommen sollte. Ich erinnere mich gut an die erste Bürgerversammlung in Dilldorf, wo wir eine alte Grundschule als Behelfseinrichtung nutzen wollten. Wir haben Polizeischutz angefordert und die Veranstaltung schützen lassen, weil sich Rechtsextremisten angekündigt hatten. Damals und auch in den folgenden Bürgerversammlungen habe ich von Anfang an klargemacht, dass ich von meinem Hausrecht Gebrauch mache und die Leute rausschmeiße, wenn sie hetzen und hassen. Aber es hat auch sehr viele Bürger gegeben, die von sich aus Hilfe in ihrem Stadtteil organisiert haben. Das war die große Stärke unserer Gesellschaft.

Bei der Aufstellung der Zeltdörfer mussten Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, zu viel Geld ausgegeben zu haben. Würden Sie noch einmal auf Zelte setzen?

Die Zeltdörfer haben in der Tat viel Geld gekostet, aber die Alternative wäre zu diesem Zeitpunkt gewesen, sehr viele Turnhallen in Essen als Asylunterkünfte zu nutzen. Damit wäre der größte Teil des Vereins- und Schulsports in der Stadt zum Erliegen gekommen. Das wollten wir nicht.

Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise waren Plätze oft schon vergeben, kaum dass die Stadt sie eingerichtet hatte. Jugendliche, die sich ohne Eltern auf die Flucht begeben hatten, standen Freitagnachmittags auf den Fluren des Jugendamtes, große Reisebusse mit Flüchtlingen aus anderen Bundesländern standen vor dem Sozialamt. Gab es Momente, in denen Sie dachten: Wir schaffen das nicht?

Renzel: Nein, zu keinem Zeitpunkt. Dazu hatten wir gar keine Zeit. Jeden Tag bis in die Nacht hinein gab es Probleme zu lösen und neue Aufgaben zu bewältigen. Ob es nun um ausreichend Unterkünfte, um Hygiene oder Sicherheit ging, wir haben immerzu daran gearbeitet, Probleme zu lösen. Das war eine irre Mannschaftsleistung, besonders der Fachbereiche in meinem Geschäftsbereich. Viele sind aber auch an ihre physischen und psychischen Grenzen gekommen. Die große Not, Angst und die Erlebnisse der Flüchtlinge, der Kinder und Familien, hat viele von uns sehr bedrückt und bewegt. Das bleibt nicht im Hemd stecken.

Der Streit über die Aufnahme von Flüchtlingen hat Freundeskreise und Familien entzweit – haben Sie selbst so etwas auch erlebt?


Renzel: Klar. Ich habe dann diskutiert, versucht mit Fakten dagegengehalten. Es gab aber auch Situationen, wo ich Menschen, die mir persönlich nahestanden, die Grenze aufgezeigt und gesagt habe, ‘wenn ich dir wichtig bin, mit meiner Haltung und Meinung, dann muss das anders gehen. In unserer Wohnung wird nicht gegen Menschen gehetzt, egal wo sie herkommen’.

Und wie handhaben Sie das außerhalb Ihrer Wohnung?

Auf Facebook zum Beispiel habe ich mich oft eingemischt und mir die Zeit genommen, meine Haltung, meine Meinung klar zu machen. Ich finde das sehr wichtig. Mich interessiert nicht, welchen Pass ein Mensch hat oder irgendwann mal hatte. Ich mache keinen Unterschied zwischen denen, die zu uns gekommen sind und denen, die da sind. Die Antwort auf jeden, der sich nicht an Regeln hält, ist nicht Hetze, Hass oder Diskriminierung, sondern Durchsetzung der Regeln. Fördern und Fordern ist der richtige Weg. Wir bieten großartige Chancen in unserem Land, in unserer Stadt - aber wir setzen auch Grenzen.

Meinen Sie damit eine konkrete Situation?

Eine sehr schwierige Situation waren die jungen Männer aus Nordafrika. Das war für mich echt grenzwertig. Wir hatten sehr viel Gewalt, sehr viel Drogen, insbesondere oben an der Asylunterkunft am Volkswald. Da stellte sich in der Öffentlichkeit unsere Haltung in Frage. Wir haben ja für Integration geworben und mussten dort feststellen, dass wir an unsere Grenzen stoßen. Die jungen Nordafrikaner hatten kein Asylgrund. Die, die wir dort kennengelernt haben, waren kriminell. Sie sind nach Deutschland gekommen, um hier vom Sozialstaat zu profitieren und ihre kriminellen Geschäfte weiter zu betreiben.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Abschieben ging erstmal nicht, weil die Papiere fehlten. Erst hinterher haben wir es mit Hilfe der Bundesregierung geschafft, diese Leute auszuweisen, nachdem es Gespräche mit Marokko und Algerien usw. gegeben hat. Da hat Bundeskanzlerin Merkel, die ja so verhasst war, für uns Kommunen sehr gute Arbeit geleistet.


Zuletzt haben viele WAZ-Leser angegeben, dass sie die Innenstadt auch wegen junger migrantischer Männergruppen mieden. Viele fühlen sich demnach unwohl, auch wenn ihnen persönlich gar kein Unrecht widerfährt. Was sagen Sie den Menschen, die diese diffuse Bedrohung spüren?


Es befremdet mich, dass Menschen nur wegen einer anderen Hautfarbe, einer anderen Sprache oder ähnlichem als Bedrohung wahrgenommen werden. Gleichwohl gilt natürlich, dass alle Menschen unsere Regeln einhalten und sich an unserer Kultur, an unserer freiheitlichen und liberalen Gesellschaftsordnung orientieren müssen.

Wie steht es denn aus Ihrer Sicht um die Integration der Flüchtlinge in Essen?


Die syrische Community ist mit etwa 12.000 Menschen nach der türkischen und der polnischen inzwischen die drittgrößte ausländische Community in Essen. Unsere Sprache zu lernen ist nicht einfach, aber unerlässlich um hier anzukommen, ebenso wie sich auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. Obwohl viele Flüchtlinge da auf einem sehr guten Weg sind, sind es eben nicht alle. Die Sorge vieler Asylkritiker liegt ja nicht zuletzt auch darin, dass sich Flüchtlinge in den sozialen Systemen einrichten könnten oder in Clan- oder Familienstrukturen eine Art Parallelgesellschaft gründen, so wie bei wie wir es bei einem Teil libanesischer Flüchtlingen, die in den 1980ern zu uns kamen, erleben.

Eine begründete Sorge?

Das müssen wir jedenfalls von Anfang an verhindern, dafür brauchen wir neue Schwerpunktsetzungen für unsere Integrationsaufgabe. Und genau deshalb haben wir mit allen Akteuren unser neues Essener Handlungskonzept „Zusammenleben in Vielfalt“ entwickelt, was im Februar vom Stadtrat verabschiedet wurde. In sieben prioritären Handlungsfeldern arbeiten wir mit allen Menschen guten Willens weiter daran, dass unser Zusammenleben in Essen gut gelingt. Wir alle gemeinsam machen unsere liebenswerte Stadt Essen aus.

Ist es nicht in so, dass Tausende Flüchtlinge in Essen über Jahre vom Sozialstaat anhängig sein werden, was wiederum eine echte Integration enorm erschwert?

Wir müssen ganz besonders die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen konsequent in den Blick nehmen und eng begleiten, dass der Übergang von der Schule in Ausbildung und in arbeit gelingt. Viele ältere Erwachsene haben leider keine ausreichende Qualifikationen, die über Helfertätigkeiten hinausgehen. Wir haben in den letzten Jahren schon sehr viele in Arbeit integriert, aber es ist auch noch viel Luft nach oben.