Essen-Holsterhausen. Als Kirche hatte das Gotteshaus in Essen ausgedient. Doch fürs Zusammenleben wird es gebraucht. Wie aus Fremden eine Art Großfamilie wurde.

Auffällig ist schon beim Betreten des Gebäudes die rote Eingangstür, doch das ist erst der Anfang. Im Innern wartet sofort die nächste Besonderheit. Man hat einen Blick, wie ihn ein übliches Wohnhaus eher nicht zu bieten hat. Im Flur kann man über 20 Meter nach oben schauen, bis man eine Decke entdeckt. Willkommen in der früheren Lukas-Kirche von Holsterhausen, die heute ein Mehrgenerationenprojekt samt Kita und Praxisräume beherbergt.

Flur bietet freien Blick in den „Himmel“

Gottesdienste wurden hier zuletzt 2008 gefeiert. Es folgte später ein kompletter Umbau. Der frühere Kirchraum, 1961 entstanden, ist fünf Stockwerken gewichen. Da man bekanntlich nie so ganz geht, sind die Etagen nicht auf über die gesamte Fläche gezogen worden, der vordere Teil ist frei geblieben und bietet freie Sicht. Oder wie es Margarete Schönwasser (84) und Hannah Strünck (73) formulieren: „Man kann in den Himmel blicken“.

Freier Blick im Flur nach oben unter das frühere Dach der Lukaskirche: Die Perspektive hatte schon auf einige Leute eine solche Anziehungskraft, dass sie dauerhafte Mieter wurden.
Freier Blick im Flur nach oben unter das frühere Dach der Lukaskirche: Die Perspektive hatte schon auf einige Leute eine solche Anziehungskraft, dass sie dauerhafte Mieter wurden. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Seit nunmehr acht Jahren wohnen sie in dem einstigen Gotteshaus an der Planckstraße, das nun den Namen Lukas-K-Haus trägt. Der Eingangsbereich, zu dem auch noch ein großes Mosaik mit der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn zählt, habe schon kräftig Eindruck gemacht, nicht das entscheidende, aber doch ein maßgebliches Argument, hier einzuziehen. Beide Frauen suchten händeringend nach einer Wohnform, die sich abhebt von dem Althergebrachten. „Großfamilie, aber durchaus mit fremden Leuten“, so Strünck. Ihr Wunsch sollte in Erfüllung gehen.

Bewohner helfen sich untereinander, beim Einkauf oder bei Reparaturen zum Beispiel

Menschen ganz unterschiedlichen Alters leben nicht nur unter einem Dach zusammen, „wir sind auch füreinander da“. Jüngere erledigen für Ältere schon mal den Einkauf. Wenn kleinere Reparaturen anstehen, klingeln Mieterinnen wie Ingrid Schindewolf (71) bei Dennis Dellemann (38), der mit seinem Mann auf der gleichen Etage wohnt. Der wissenschaftliche Mitarbeiter an der Uni in Bochum ist gern zur Stelle, hat doch das Paar vor zwei Jahren gezielt nach einem solchen Wohnprojekt Ausschau gehalten. Die Schlagzeile im Netz „Wohnen in alter Kirche“ hat „uns neugierig gemacht“, erinnert sich Dellemann.

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Bei der Besichtigung sei dann auch sofort der Funke übergesprungen, man habe gespürt, dass in dem Haus eine sehr gute Atmosphäre herrsche. Zum Einstand backte das Paar Kuchen, brachte ihn zum Mietertreffen mit. Das Format ist inzwischen der Pandemie zum Opfer gefallen. Kreativ wie die Lukas-Bewohner nun mal sind, kommt man seither in kleineren Gruppen auf dem Etagenfluren zusammen, Corona-Auflagen werden selbstverständlich beachtet.

Hannah Strünck, Ingrid Schindewolf, Margarete Schönwasser und Dennis Dellemann (von links) leben gemeinsam unter einem ehemaligen Kirchendach in Essen.
Hannah Strünck, Ingrid Schindewolf, Margarete Schönwasser und Dennis Dellemann (von links) leben gemeinsam unter einem ehemaligen Kirchendach in Essen. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Als man jüngst wieder ein Oktoberfest im Gemeinschaftsraum feiern konnte, keimte große Hoffnung auf, dass man bald wieder zum üblichen Programm mit gemeinsamen Geburtstagsfeiern, Spieleabenden und bunter Unterhaltung zurückkehren könne. Ingrid Schindewolf ist diejenige, die sich um die Kasse kümmert, in der ein jeder Mieter 15 Euro pro Jahr einbezahlt. Von dem Geld werden zum einen die Feiern finanziert, zum anderen kauft man alle Jahre wieder einen Tannenbaum. Wenn er erleuchtet, drücken sich die Kinder der Kita Wurzelzwerge, im Erdgeschoss beheimatet an den Scheiben des Gemeinschaftsraumes die Nasen platt.

In einem neuen Licht steht das einstige Gotteshaus heute da: Es bietet einem Mehrgenerationenprojekt Platz. Die ursprüngliche Anordnung der Kirchenfenster findet sich in der Fassadengestaltung wieder, so der Architekt. Es wurden neue Fenster eingesetzt, im Treppenhaus sind die historischen Kirchenfenster erhalten geblieben.
In einem neuen Licht steht das einstige Gotteshaus heute da: Es bietet einem Mehrgenerationenprojekt Platz. Die ursprüngliche Anordnung der Kirchenfenster findet sich in der Fassadengestaltung wieder, so der Architekt. Es wurden neue Fenster eingesetzt, im Treppenhaus sind die historischen Kirchenfenster erhalten geblieben. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Eltern mit Nachwuchs stehe es natürlich offen, ihre Kinder in der Einrichtung anzumelden, berichtet Margarete Schönwasser. Allerdings habe man inzwischen die Erfahrung gewonnen, dass Familien, wenn sie denn dann zwei Kinder haben, sich doch größere Wohnungen suchen. „Viele, die mal hier zuhause waren, sind aber in der Nähe geblieben“, sagt die Holsterhauserin.

In Pantoffeln zur Physiotherapie ein paar Etagen tiefer

Zum Kreis der Menschen, die in den insgesamt 16 Wohnungen leben, gehört auch eine Reihe von Single-Haushalten unterschiedlichen Alters, beispielsweise Ingrid Schindewolf. Sie war vor einigen Jahren mit ihrem Mann von der Holsterhauser Straße hierher gezogen, die 38 Stufen bis zu der Wohnung, in der das Paar früher wohnte, konnte er aufgrund körperlicher Gebrechen nicht mehr schaffen, sagt die Seniorin. Im Lukas gab es indes einen Aufzug. Ein Jahr nach dem Ortswechsel starb ihr Mann. In der Situation Menschen gleich nebenan zu haben, die einem beistehen, sei Hilfe und Stütze zugleich gewesen, hebt sie hervor.

Gern steht auch sie den Mitbewohnern mit Rat und Tat zur Seite, als ehemalige Pflegekraft sei ihr Wissen doch sehr willkommen. Sie selbst gehört auch zu denen im Haus, die die Physiotherapie-Praxis in der ehemaligen Kirche regelmäßig aufsuchen. Dass die Rückenleiden mit ihrem früheren Beruf zu tun haben, sei mehr als wahrscheinlich. Wenn die Essenerin übrigens im Wartezimmer auf ihren Termin wartet, erntet sie manchmal etwas irritierte Blicke, sorgt aber dann für Aufklärung: Da sie im Haus bleiben kann, behält die Seniorin nämlich ihre Pantoffeln an.

Annehmlichkeiten wie diese „wissen wir zu schätzen“, sagt Hannah Strünck und möchte ebenso wie Margarete Schönwasser den Ausblick nicht mehr missen, haben sie doch die Innenhöfe der Krupp-Siedlung vor sich. Dennis Dellemann, der gegenüber wohnt, kann derweil die Skyline von Essen genießen.

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