Essen. NRW setzt im Kampf gegen Clankriminalität auf Null Toleranz. Der Justizminister wertet das Wirken der Staatsanwälte vor Ort in Essen als Erfolg.
In der Bekämpfung der Clankriminalität verfolgt die Landesregierung seit gut drei Jahren die „Null-Toleranz“-Strategie. Dazu gehört auch das 2019 in der Clan-Hochburg Essen gestartete Projekt „Staatsanwälte vor Ort“. NRW-Justizminister Peter Biesenbach sprach am Mittwoch in einer ersten Bilanz von einem „vollen Erfolg“.
Eine Bilanz, die er mit Zahlen untermauerte: So sei es den beiden neuen Staatsanwälten in Essen gelungen, seit Projektbeginn pro Jahr mehr als 200 Ermittlungsverfahren gegen kriminelle Mitglieder von Clans zu führen. Im Visier der Ermittler stehen fast ausschließlich libanesische und libanesisch-stämmige Clan-Mitglieder.
24 Kammerklagen führen zu Freiheitsstrafen von 101 Jahren und vier Monaten
24 Kammeranklagen hätten in dieser Zeit unterm Strich zu Freiheitsstrafen von 101 Jahren und vier Monaten geführt. Bei weiteren 107 (Jugend-)Schöffengerichtsklagen seien insgesamt Freiheitsstrafen von 91 Jahren und neun Monaten verhängt worden. Es ging überwiegend um gefährliche Körperverletzung, Drogenhandel, Raub, räuberische Erpressung, gewerbsmäßiger Betrug und gewerbsmäßige Hehlerei sowie Geiselnahme. Die Geschäftsfelder reichten von Drogenhandel über Steuerbetrug mit Shisha-Tabak und Schutzgelderpressung bis hin zum schwunghaften Handel mit gefälschten Markenklamotten.
Der Essener Oberstaatsanwalt Peter Gehring, Leiter der Abteilung für Organisierte Kriminalität und Clanverfahren, verglich Clankriminalität mit einem Eisberg, dessen größter Teil unsichtbar unter der Oberfläche liege. „Diesen Eisberg müssen wir durch eine konsequente, intensive und möglichst effektive Strafverfolgung zum Schmelzen bringen.“
Paralleljustiz im Clan-Milieu ist ein „erhebliches und teilweise frustrierendes Problem“
Um die Vorherrschaft in kriminellen Märkten zu halten, funktionierten kriminelle libanesische Clans nach archaischen Prinzipien wie „Macht, Ansehen, Recht des Stärkeren, Ehre, familiäre Geschlossenheit, Anspruch auf die Kontrolle eines eigenen Herrschaftsgebietes und Paralleljustiz“. Ebenso typisch sei das Protzverhalten. Statussymbole wie Autos, teure Uhren und andere Luxusgüter würden demonstrativ zur Schau gestellt.
Ein „erhebliches und teilweise auch frustrierendes Problem“ stellen aus Sicht des Oberstaatsanwalts die Paralleljustiz und das Wirken so genannter Friedensrichter dar. Die Folge: Strafanträge würden zurückgenommen, Beteiligte hätten plötzlich keine Erinnerung mehr. Schlimmstenfalls blieben Straftaten ungesühnt.
Umso höher seien die Erfolge unnachgiebiger Strafverfolgung zu bewerten. Ein Beispiel: Durch aufwendige Ermittlungsarbeit und Auswertung einer Vielzahl von Handyvideos habe ein Täter ermittelt werden können. Dieser sei zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt worden, weil er „eine am Boden liegende, bereits zusammengeschlagene Person mit einer Machete angriff“.
Kriminelle Clan-Mitglieder brüsten sich: „Zehn Jahre sitze man auf einer Arschbacke ab“
Gehrings Schilderungen haben etwas von Frontberichterstattung. Eine in Essen ansässige libanesische Familie, fuhr er fort, sei wegen gefährlicher Körperverletzung und Steuervergehen ins Visier der Ermittler geraten. Inzwischen wurden Freiheitsstrafen verhängt, die Familie habe ihre Shisha-Bar schließen müssen.
Ein anderer Fall, in dem es um schwere räuberische Erpressung geht, gibt verstörende Einblicke in die Brutalität krimineller Clan-Mitglieder. Den Tätern, so Gehring, werde vorgeworfen, die „feindliche Übernahme eines Spielautomaten-Lokals“ gewaltsam durchzusetzen versucht zu haben. Den Aufstellern wurde gedroht, „es werden Blut fließen“, oder man werde „sie in einen Kofferraum packen, ans Meer fahren und dort entsorgen“. Ferner hätten die Täter sich mit der Aussage gebrüstet, die Polizei interessiere sie nicht, denn „zehn Jahre sitze man auf einer Arschbacke ab“.
Je höher der Fahndungsdruck, so die Erkenntnis des Oberstaatsanwalts, desto professioneller agierten die Täter. Weil kriminelle Clan-Mitglieder per se davon ausgingen, dass die Polizei ihre Telefongespräche abhöre, seien sie zu „kryptierter Telefonie“ übergegangen. Überhaupt seien ihre Strukturen derart etabliert und verfestigt, dass ein „minimales Maß an Kommunikation“ zur Abwicklung krimineller Geschäfte ausreiche.
Eine Bande bedient alle Clan-Klischees: Rolex, Goldbarren, Luxusautos, Waffen, Munition
Weitere Erfolgsmeldungen der „Staatsanwälte vor Ort“: Einem in U-Haft sitzenden Angeschuldigten werde „gewerbsmäßige Hehlerei“ von Autoteilen in 49 Fällen vorgeworfen, denen mehr als 100 Bandendiebstahlstaten zugrunde lägen. Die Täter sollen dafür gestohlene Autos ausgeschlachtet haben. Die Anklage sehe die Einziehung von mehr als 100.000 Euro und eines Luxus-Autos vor.
Fünf Personen seien angeklagt wegen bandenmäßigen Betrugs und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in 35 Fällen. Sie sollen Verkehrsunfälle fingiert haben und aus erschwindelten Versicherungsleistungen ihren Lebensunterhalt finanziert haben. Familienangehörige dienten als „zufällige Zeugen“ vor Ort. Der Schaden liege bei rund 70.000 Euro.
Deutlich weniger Massenschlägereien
Als besonderen Erfolg wertet Justizminister Biesenbach den Rückgang von Massenschlägereien – im Jargon der Ermittler „tumultartige Auseinandersetzungen“.Deren Zahl sei von zehn im Jahr 2018 auf zwei im vergangenen Jahr gesunken. Biesenbach führt dies auf die „unnachgiebige und konsequente Strafverfolgung durch die Staatsanwälte vor Ort und ihre Ermittlungspersonen“ zurück.
Nahezu alle Clan-Klischees bedient schließlich ein Ermittlungsverfahren gegen eine siebenköpfige Bande, das 2021 rechtskräftig abgeschlossen wurde. Drei Haupttäter sind wegen mehrfachem bandenmäßigem Diebstahl, bandenmäßigem Betrug, schwerem Raub sowie Verstößen gegen das Waffengesetz zu Freiheitsstrafen zwischen sechs und zwölf Jahren verurteilt worden. Die Justiz beschlagnahmte Beutegeld in Höhe von 2.900.000 Euro sowie Waffen und Munition. Ferner wurden beschlagnahmt 17.000 Euro in bar, sechs Rolex-Uhren im Wert von 70.000 Euro, vier Kilogramm Gold in Form von Münzen, Schmuck und Barren sowie vier Luxus-Autos (Jaguar, AMG) im Wert von 150.000 Euro.
Erklärtes Ziel der „Staatsanwälte vor Ort“ sei es, die Clan-Strukturen aufzubrechen und die Köpfe der kriminellen Netzwerke zu erwischen. In einem langwierigen Verfahren zum Rauschgifthandel sei dies gelungen. Neben den libanesischen Clans in Essen haben die Staatsanwälte neuerdings verstärkt andere Clans im Visier. Nähere Details zur Herkunft dieser kriminellen Familienverbünde gab es am Mittwoch nicht – aus ermittlungstaktischen Gründen versteht sich.