Essen. Der Alptraum ist gottlob ausgeblieben und lässt doch zwei Essener Schulen verstört zurück: Was haben sie verpasst? Und wem kann man noch trauen?
Kouki ist ein schüchterner Junge, den die anderen Kinder immer wieder hänseln, und eines Tages pfropfen sie ihn im Park sogar in eine Mülltonne: So fängt sie an, die Geschichte vom „sanften Weg“, die der Judo-Verband vor ein paar Tagen vorgestellt hat. Der Junge, den wir hier J. nennen, sieht in seinem weißen Judo-Anzug auf älteren Fotos fast ein bisschen so aus wie Buch-Figur Kouki: die kurzen dunklen welligen Haare, das scheue, spitzbübische Lächeln, nur die Brille fehlt.
Aber leider lässt sich mit J., der jahrelang beim Judo Club DJK Essen-Frintrop trainierte, nicht für die japanische Kampfkunst werben, bei der es ja auch darum geht, Werte wie Respekt und Bescheidenheit, Mut oder Selbstbeherrschung zu vermitteln. Denn dieser kleine Kämpfer aus Borbeck-Mitte hat den eingeschlagenen „sanften“ Pfad irgendwann verlassen, hat Hass-Listen geschrieben, nagelgespickte Bomben gebaut und Gewalt-Fantasien brutalster Art formuliert.
Und nun sinnieren alle, was da passiert ist, suchen Pixel für Pixel ab, um ein neues Bild desjenigen zu formen, der am Freitag, den 13. Mai, möglichst viele von ihnen wohl umbringen wollte. Eine Mitschülerin bringt es ratlos auf den Punkt: „Der war doch immer nett.“
Nazis gelten mehr so als eine Art schlechter Witz: irgendwie nicht ernstzunehmen
Andererseits: „Der ist Nazi!“ Diese Erkenntnis macht schnell die Runde, als J. im August 2021 von der Borbecker Realschule am Schloss aufs 25 Gehminuten entfernte Don-Bosco-Gymnasium wechselt. Er kommt in die EF-Gruppe, EF für „Einführungsphase“. Hier will man den über 70 Jugendlichen den Übergang, weg von geschlossenen Klassenverbänden der Mittelstufe hin zum offenen Kurssystem der Oberstufe mit dann persönlich zugeschnittenen Stundenplänen, erleichtern.
Auch viele Jugendliche aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte lernen dort, aus Syrien und Südamerika, aus alten Sowjetrepubliken und dem Mittleren Osten, aus Afrika. Mit ihnen hat Schulwechsler J. noch ein paar Extrastunden.
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Alltägliche Hochspannung mit einem „Nazi“ also? Mitnichten. Ein ausgewiesener Rassist wäre vielleicht eher ein Problem, wer das N-Wort über Menschen mit schwarzer Hautfarbe sagt, ist bei vielen hier sofort unten durch. Aber Nazis gelten mehr als so eine Art schlechter Witz: irgendwie nicht ernstzunehmen.
Das Hakenkreuz an der Halskette versteckt er unterm T-Shirt: Ist schließlich verboten
Also malt J. schon mal ein Hakenkreuz in seinen College-Block und vervollständigt das Zeichen dann flugs zu einem Fenster. Einmal trägt er einen Hakenkreuz-Anhänger um den Hals, aber nur unter dem T-Shirt, ist schließlich verboten. Und im Geschichts-Unterricht brilliert er mit einem flammenden Referat über den Nationalsozialismus. „Druckreif“, staunen jene, die dabei waren, zumal er offenbar „ohne eine Karteikarte als Gedankenstütze“ auskommt.
Später wird man erfahren, dass J. sich im Internet tatsächlich auf den einschlägigen rechtsextremen Seiten tummelte, aber nicht als Aktivposten für örtliche Nazi-Kader hervortat. Eher stiller Sympathisant als Großmaul.
Und kein so übler Typ, finden jene, die ihn kennen. Nicht übermäßig beliebt zwar, mitunter auch „ziemlich schräg“, aber eben auch kein einsamer Wolf, der in den Pausen mürrisch über den Schulhof schlurft: „Er hatte immer Menschen um sich.“ Sie beschreiben ihn als introvertiert, den Pausenclown geben ganz sicher andere.
Aber keiner mobbt ihn, „er ist mit jedem klar gekommen“, sagt eine Mitschülerin, die ihn im Kurs erlebte, auch mit den Migranten. „Ich hab nicht ein einziges Mal einen ausländerfeindlichen Witz von ihm gehört“, sagt ein anderer, und wenn es an gemeinsame Projekte ging, haben sie wie selbstverständlich beieinander gehockt, der „Nazi“ und der Muslim.
Auf der geheimnisvollen Liste stehen bei J. „Leute, die ich hasse“ – auch Schulkumpels
Trotz der Warnungen, die es offenbar auch gab. „Pass bei dem auf, der kann gefährlich sein“, hat einer von J.s Ex-Kumpels auf der Realschule einem Don-Bosco-Schüler mal zugeraunt. Berührungsängste hatte dieser dennoch nicht: „Ja, der war ein bisschen rechts, hatte einen dunklen Humor.“ Aber: „Ich geb jedem zwei Chancen.“
Und wenn überhaupt mal jemand J. auf einen dieser geschmacklosen Nazi-Scherze anspricht, erntet der ein süffisantes Lächeln. Sieht aus wie: Ist doch gar nicht so gemeint. Ironie-Schalter off. Wenn da das Gequatsche über diese Liste nicht gewesen wäre.
Die Liste. Sie wird aus heiterem Himmel zum Thema, etwa wenn J., diesen richtig guten Schüler, die schlechte Note in einer Klausur wieder einmal wütend gemacht hat: „Herr S. steht ganz oben auf meiner Liste“, versichert er dann und guckt bedeutungsschwanger in die Runde. Und es landen ja beileibe nicht nur Lehrer seiner Penne dort, sondern auch Kumpels, mit denen er abhängt. Wenn ihm einer blöd kommt, so wie neulich, wird die Rangliste übers Wochenende korrigiert, und das sagt er demjenigen dann auch ins Gesicht: „Du bist auf der Liste höher gerutscht.“
Was das am Ende bedeutet, wer alles auf dieser ominösen Liste platziert ist, von der vermeintlich schon ehemalige Mitschüler der Realschule erzählen können, bleibt etwas nebulös: „Es ging meistens um Leute, die ihm was Schlechtes angetan haben“, sagt einer. Und J. selber hält sich mit Interpretationshilfen zurück, behauptet, dass dort „Leute draufstehen, die ich hasse“, und ergeht sich bei anderen Gelegenheiten in Andeutungen: „Ihr werdet das noch früh genug sehen.“
„Uki-otoshi“, der „Schwebesturz“, ist passé: Es wird geballert, bis die Grafikkarte glüht
Fest steht, dass J. sich längst entschieden hat, nicht mehr sanft zu sein. Vorbei die Zeiten, da er als Judoka in Frintrop für allerlei Meldungen gut war. Hier sein erster Kampf, dort die Silbermedaille bei der Stadtmeisterschaft, dazu die gute Kata-Vorstellung sowie die Farbwechsel an der Taille: Acht sogenannte „Kyūs“, so heißen die Fortschrittsgrade der Schüler, sind für die Judo-Kinder zu absolvieren, wer die Prüfung schafft, dokumentiert das nach außen in der Gürtelfarbe.
Im Internet lässt sich deshalb nachlesen, wann J. seine Judo-Jacke gelborange und orangegrün gebunden hat, bis er irgendwann im Corona-Herbst des Jahres 2020 den braunen Gürtel umlegen darf. Es ist, was J. angeht, die letzte Notiz auf der Webseite des Vereins, der sich rührend um die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bemüht. Und der peinlich berührt scheint, dass einer der Ihren so aus der Art geschlagen sein muss. Man hat entschieden, keine Auskünfte zu geben, bitte um Verständnis. Und nur dies: Offiziell sei der junge Mann noch Mitglied im Verein, aber „er war schon längere Zeit nicht mehr beim Training“.
Denn Uki-otoshi (der „Schwebesturz“), Kata-guruma (das „Schulterrad“), Sankaku-jime (der „Dreiecks-Würger mit den Beinen“) und all die anderen Bewegungsabläufe, die J. für die Prüfungen einst hat büffeln müssen, sind bei ihm aus der Mode gekommen. Er kämpft längst mit anderen Bandagen – bei „Counter Strike: Global Offensive“, kurz „CS:GO“, das er neben Billard auf seinem Laptop installiert hat.
Zuhause trifft er Vorbereitungen für echte „Kills“, darum treffen sie sich nie bei ihm
„CS:GO“ ist ein sogenanntes Online-Taktik-Shooter-Spiel, bei dem auf einem begrenzten Spielfeld ein Gefecht zwischen Terroristen und einer Antiterroreinheit ausgetragen wird. Hier wird geballert, erstochen und weggebombt, dass die Grafikkarte glüht, zum Einsatz kommen Faustfeuerwaffen, Maschinenpistolen, Sturmgewehre, aber auch Handgranaten und Molotowcocktails. Beileibe kein exklusives Freizeitvergnügen für Rechtsaußen, große oder kleine: Shooter-Spiele zu zocken, ist längst jugendlicher Volkssport. Die Alten weiden sich ja auch an Mord und Totschlag zur Primetime.
Dabei ahnt offenbar keiner, dass J. derweil daheim in seinem Zimmer Vorbereitungen auch für echte „Kills“ trifft. Es fällt nur auf, dass sie sich nach dem Unterricht nie mal bei ihm zu Hause treffen können, obwohl er doch nur ein paar hundert Meter entfernt von der Schule wohnt: „Es gibt da Sachen, die dürft Ihr nicht sehen.“
Für die meisten klingt das bestenfalls nach Wichtigtuerei, wenngleich J.s Reaktion irritiert, als ein Mitschüler ihm mal das Video eines im Wald gezündeten illegalen Böllers zeigt: „Das war schon ziemlich heftig“, sagt der Kumpel, doch J.s Reaktion besteht aus gelangweiltem Achselzucken: Sowas sei ja nun wirklich nicht schwer zu bauen.
Derlei Sprüche und so vieles andere haben sie als Witz aufgefasst, die übliche „Scheiße-Laberei“ unter Pubertierenden, wie einer sagt. So wie J.s Ankündigung, dass er stolz wäre, mal für das Vaterland zu sterben. Ein andermal soll es unbedingt ein Freitag, der 13., sein. Das passt zu einem mit einem Propheten-Namen aus dem Alten Testament und einem Pentagramm an der Halskette, und erst im Nachhinein fügen sich aus all diesen Splitterteilchen die Umrisse eines Puzzles zusammen.
Was Nägel an einer Glasflasche sollen? „Werdet Ihr noch sehen“
So wie die Beobachtungen aus dem Kunstprojekt: Aus etwas Altem etwas Neues machen, lautet dort die Aufgabe, und J. klebt Nägel von außen an eine Glasflasche, nimmt sie später mit nach Hause. „Alle haben komisch geguckt.“ Was das denn sein sollte? „Ihr werdet das noch früh genug sehen.“
Nein, sie haben das nicht ernstgenommen, so vieles nicht. Aber dann kommt dieser Mittwoch, der 11. Mai, und J. verrät einem der Ihren, dass er sich am Donnerstag noch mal verabschieden wolle. Da macht es dann Klick im Kopf, und plötzlich geht alles ganz schnell: Der Schüler erzählt seiner Mutter davon, die informiert eine Lehrerin, die wiederum alarmiert die Schulleitung, die gerade in erweiterter Runde tagt.
Das Treffen wird aufgelöst, die Polizei eingeschaltet, und kaum zwölf Stunden später, am Donnerstag in aller Herrgottsfrühe um 4.20 Uhr rammt ein Sondereinsatzkommando der Polizei in J.s elterlicher Wohnung die Tür ein und nimmt den 16-Jährigen fest. NRW-Innenminister Herbert Reul wird später sagen, damit habe man „möglicherweise einen Alptraum verhindert“.
Die Schüler sind geschockt: „Keiner von uns dachte, dass er das so durchziehen würde“
Die Einsatzkräfte finden unter anderem 16 Rohrbomben, zum Teil mit Uhren bestückt und mit Nägeln präpariert, sie findet Schlagringmesser und Armbrüste, Schreckschusswaffen und eine Machete, und sie finden die Liste, ein verquastes Manifest, bebilderte bestialische Mordfantasien an jungen Frauen.
Und dann wird klar, dass sie alle von J. im Grunde gar nichts wussten, zumal er „auf Social Media so gut wie unsichtbar“ war. „Keiner von uns dachte, dass er das so durchziehen würde“, sagen die Mitschüler, hörbar geschockt. „Das größte Problem war, dass wir ihm so getraut haben“.
Sie sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Coolness und ihrem Entsetzen: „Ich habe eine solche Wut auf ihn“, ergänzt einer, und seine Stimme bebt, „weil er einem einen Tag vorher noch in die Augen gesehen hat und freundlich war. Und zu Hause hat er dann geplant, uns alle umzubringen.“
Vielleicht ist das die verstörendste Erkenntnis dieses verhinderten Amoklaufs in Borbeck: Dass es jederzeit passieren kann. Dass die Grenze zwischen blödem Gelaber und blutigem Ernst mitunter so schwammig verläuft, dass das Böse dir eben noch ein freundliches Gesicht zeigt, bis zu dem Punkt, wo die Zünder scharf gestellt werden.
„Kommst du morgen Schule?“ fragt am Tag von J.s Festnahme einer in der WhatsApp-Runde der EF-Stufe.
„Mit AK47“, antwortet ein anderer. Ah, mit ner Kalaschnikow also.
Sollte ein Witz sein.