Essen/Bottrop. Willi „Ente“ Lippens hat mit Rot-Weiss Essen Glanz und Elend erlebt. Im Interview blickt er zurück – und verrät, warum es diesmal nach oben geht.
Wer wüsste besser, wie es sich anfühlt bei Rot-Weiss Essen, wenn es mal wieder um alles oder nichts geht, als Willi Lippens. Der 76-Jährige hat als Spieler viele Schlachten geschlagen für seinen RWE. Vor dem entscheidenden Spiel in der Regionalliga-West gegen Rot-Weiß Ahlen sprach die Redaktion mit dem Kultkicker, den RWE-Fans liebevoll „Ente“ nennen.
Herr Lippens, Rot-Weiss Essen spielt am Samstag um den Aufstieg in die 3. Liga. Kribbelt es schon?
Willi Lippens: Also, nervös bin ich deshalb nicht, aber natürlich fiebere ich mit. Rot-Weiss ist mein Verein. Allein schon deshalb, weil er mir die Chance gegeben hat, Fußballprofi zu werden.
Es steht ein echtes Finale an. Zu Ihrer aktiven Zeit habe Sie so eine Situation öfter erlebt.
Bei Rot-Weiss gab es ja kaum eine Saison, die „easy“ zu Ende ging. Es ging immer um Abstieg oder Aufstieg. Leider öfter um den Abstieg.
Ältere RWE-Fans erinnern sich an das dramatische Finale 1980 um den Aufstieg in die 1. Bundesliga gegen den Karlsruher SC – und an Ihren legendären Auftritt davor im Aktuellen Sportstudio.
Im Hinspiel in Karlsruhe hatten wir mit 1:5 eine Packung gekriegt. Ich sah, dass der Trainer des KSC aufstoßen musste vom Sekt. Habt ihr schon gefeiert, habe ich gefragt und gewarnt: Na, freut euch mal nicht zu früh.
RWE musste das Rückspiel an der Hafenstraße mit vier Toren Unterschied gewinnen. Eigentlich aussichtslos, doch das Georg-Melches-Stadion wurde zum Tollhaus.
Da war Stimmung im Laden. Wir hatten das große Glück, haben ein schnelles Tor gemacht, dann noch eins und noch eins. Leider wurden wir irgendwann ausgekontert, weil wir zu euphorisch gestürmt haben. So haben wir ein Gegentor gekriegt. Damit war die Sache gelaufen. Sonst hätte ich noch ein Jahr länger gespielt. Ich war ja schon ein Fußball-Opa.
15 Jahre zuvor hatten Sie bei RWE ihre Karriere begonnen.
Ich wollte unbedingt Profi werden. War das ein Theater zu Hause. Mama hat geweint, Papa hat geweint: In die Großstadt, wo nur gesoffen wird – das war das Klischee vom Ruhrgebiet damals auf dem Land. In Essen angekommen bin ich mit einem Persil-Karton mit einer Kordel drum und einem kleinen Griff mit Kupferdraht von Hettlage. Das werde ich nie vergessen.
In dem Persil-Karton waren Ihre persönlichen Sachen?
Da war alles drin. Ich bin damit zur Autobahn, um per Anhalter zu fahren. Ein Holländer hat mich mitgenommen, ein Lastwagenfahrer. Ich wollte ja eigentlich zum MSV Duisburg, weil das von Kleve aus gesehen die erste Station war, wo Profifußball gespielt wurde. Dann kannst Du mit mir nicht fahren, sagte der Holländer, ich fahre nach Essen. Ich bin eingestiegen und dachte mir, da bist du schon mal im Ruhrgebiet. An der B 224 hat er mich rausgeschmissen und gesagt: Jetzt läufst Du über die Brücke im Stadthafen, dann kommst du zu Rot-Weiss Essen.
Dort durften Sie gleich vorspielen?
Trainer, hier ist ein Bauer aus Kleve, kann der mittrainieren, hat Jupp Breitbach, der Platzwart gerufen. Ein Bauer aus Kleve? Das fängt ja gut an, dachte ich mir. Ich bekam Trainingsklamotten. Nach dem Training hieß es, geh mal hoch auf die Geschäftsstelle, du kannst einen Vertrag unterschreiben. Ich habe dann ein Jahr Regionalliga gespielt, danach sind wir aufgestiegen.
Nun geht es wieder um den Aufstieg. Kann man sich als Spieler auf diese Situation vorbereiten? Haben Sie sich damals darauf vorbereitet?
Ich habe mir nie Gedanken gemacht. Ich wusste, Fußball ist mein Ding. Was sollte ich mich da aufregen? Ich war immer etwas kühler als die anderen.
Aus Ihrer Zeit in der Bundesliga sind Sie als Unikum mit großem Unterhaltungswert in Erinnerung geblieben. Als einer, der immer für einen Spaß zu haben war.
Nicht nur. Man darf nicht vergessen, ich habe über 200 Bundesligaspiele gemacht. Aber ich hatte immer das richtige Gespür, wann der richtige Moment für einen Spaß gekommen war. Dann hieß es: Tätärätä, Koffer auf, lass mal raus die Dinger …
Einer Ihrer Lieblingsgegner war Berti Vogts.
Für den Berti konnte man mich wecken. Der Berti war ein Schrupper vor dem Herrn, der ist ohne zu warten mit beiden Beinen reingesprungen. Jeder andere wäre längst vom Platz geflogen. Aber wegen seiner Körpergröße hatte er beim Schiri wohl einen Vorteil. Der Berti durfte das.
Sie haben ihn immer wieder ins Leere laufen lassen. Die Zuschauer auf den Tribünen jauchzten vor Vergnügen. Welches Verhältnis haben Sie heute zu Berti Vogts?
Er stottert immer, wenn er mich sieht. Aber was soll ich sagen: Er ist 1974 Weltmeister geworden. Hätte ich damals im Finale für Holland gespielt, wäre ich der einzige Weltmeister in Deutschland gewesen. Aber dann hätte ich auswandern müssen.
Ihrem Vater zuliebe, der Holländer war, waren Sie Nationalspieler der Niederlande.
Mein Vater hat gesagt, wenn Du für Deutschland spielst, musst Du erst gar nicht mehr nach Hause kommen. Ich war ihm deshalb nie böse. Das war eben diese Generation, die den Krieg miterlebt hat. Die Niederlande haben mich dann zu einem Länderspiel eingeladen, gegen Luxemburg. Danach nie wieder. Für die war ich Deutscher.
Am Samstag geht es nicht um den WM-Titel, sondern um die 3. Liga. Was würde das für RWE, für die Stadt Essen bedeuten?
Es wäre für Rot-Weiss Essen und die Fans natürlich ein absolutes Highlight. Dann kämen in der nächsten Saison nicht nur die ins Stadion, die schon immer hingerannt sind, sondern der eine oder andere mehr. Und das Image der Stadt würde sicher nicht darunter leiden, wenn Rot-Weiss wieder höher spielt.
Wie optimistisch sind Sie, dass es klappt.
Ich bin immer Optimist. Für mich ist Rot-Weiss Essen immer Favorit. Ich bin sicher, dass fast alle Mannschaften, die nach Essen anreisen, immer noch dieses Bild vor Augen haben, da ist die Hölle los. Wenn man den Gegner dann von Anfang an unter Druck setzt, gehen die Leute draußen ab wie ein Pfeil, dann schüchtert man den Gegner ein, zumal die Gäste vom Dorf kommen. Den Heimvorteil muss RWE nutzen.
Aber zu scheitern gehört doch fast schon zur DNA dieses Vereins.
Die Fans sind leidensfähig, davor muss man den Zylinder ziehen. Das ist schon fast einzigartig in Deutschland. Aber diesmal wird es klappen.
RWE hat sich zwei Spieltage vor Saisonende von seinem Trainer getrennt.
Dazu kann ich nichts sagen. Dafür bin ich zu weit weg. Aber als alter Sack muss man auch nicht zu allem etwas sagen.
Hat ein Trainer in so einem Finale Einfluss auf die Mannschaft?
Nicht unmittelbar. Für mich wird die Position des Trainers sowieso überschätzt. Der Trainer ist dazu da, die Mannschaft bei Kondition zu halten. Und bei Laune. Das ist ganz wichtig. Aber dieses Geschrei am Spielfeldrand, dieses Gestikulieren – mitten im Spiel nimmst Du das gar nicht wahr.
Wohin könnte der Weg von RWE führen?
Mit dem Fundament des Vereins gibt es nur eine Richtung: weiter hoch. Es hängt natürlich immer vom Personal ab. Kann man die Leistungsträger halten? Oder kommen die mit ihrem Berater, der ihnen was ins Ohr flüstert? Dann sind die weg. Es ist ja leider das Zeitalter der Berater.
Hatten Sie einen Berater?
Ich brauchte keinen. Damals wurdest Du direkt angesprochen, dann ging das los. Ich habe in ganz Deutschland verhandelt, bin aber nie richtig weggegangen. Außer eben nach Dortmund und später in die USA zu den Dallas Tornados. Die Amerikaner haben dann gesehen, dass Fußball nicht so langweilig ist wie Baseball, wo einige auf der Tribüne einschlafen.
Langweilig wird es am Samstag sicher nicht. Welchen Ratschlag geben Sie den Spielern mit?
Gewinnen. Das ist der beste Tipp. Ich habe immer gesagt, kurz vorm Abnippeln wäre es gut, noch einmal einen Aufstieg zu erleben. Es wäre gut, auch fürs Herz.
Zur Person: Willi Lippens
Willi Lippens spielte von 1965 bis 1976 für Rot-Weiss Essen. Dann wechselte er für drei Jahre zu Borussia Dortmund und 1979 nach Dallas in die USA. Im selben Jahr kehrte Lippens zurück zu RWE, wo er bis 1981 in der 2. Bundesliga spielte. Willi Lippens erzielte in 242 Bundesligaspielen 92 Tore. Für RWE traf er in 172 Spielen 79 Mal. Damit ist er bis heute Rekordtorschütze des Vereins. Willi Lippens, wegen seines Laufstils „Ente“ genannt, zählt neben Helmut Rahn und Horst Hrubesch zu den populärsten und beliebtesten RWE-Spielern. Für viele Fans ist „Ente“ Lippens Kult. Der 76-Jährige lebt in Bottrop, wo er unweit der Stadtgrenze zu Essen ein Restaurant betreibt.