Duisburg. Die Duisburgerin Sahra ist aus dem Libanon zu ihrer Mutter nach Walsum geflohen. Sie hatte Angst um das Leben ihrer Kinder. Dann passiert das Schlimmste.
Ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder konnte Sahra (28) retten. Nachdem Ende August eine israelische Rakete unweit ihres Hauses in einer libanesischen Kleinstadt eingeschlagen war, beschlossen die Duisburgerin und ihr Mann Hussein: Es ist für die junge Mutter, Sohn (2 1/2) und Tochter (7 Monate) sicherer, wenn die drei zu Sahras Mutter nach Walsum flüchten. „Wenn es die Kinder nicht gäbe, wäre ich geblieben“, sagt Sahra. „Ich hätte meinen Mann nicht allein gelassen. Er ist mein Seelenverwandter.“
Duisburgerin flieht mit ihren Kindern vor dem Krieg im Libanon zu ihrer Mutter
Der Libanese kann seine Frau nicht nach Deutschland begleiten. „Er ist der, der alles für seine Familie organisiert. Er kann Eltern und seinen jüngsten Bruder nicht alleine lassen“, erzählt Sahra beim Fototermin im Kantpark. Trotz der Trennung und der Angst um ihn hat Sahra auch fröhliche Momente, kann mit ihren Kids lachen. Sie ist sich sicher, dass sie in den Libanon zurückkehren kann. Nur wann? „Das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß, wie lange es noch dauert.“ Wenige Stunden später der schockierende Anruf in der Redaktion: „Hussein ist heute getötet worden.“ Das Schlimmste hat eine neue Dimension angenommen.
Rückblick: Sahra, Tochter einer deutschen Mutter und eines libanesischen Vaters, hat das Abi in der Tasche und möchte im Ausland studieren. Also beschließt sie: „Ich gehe zu meiner Familie in den Libanon.“ Sahra spricht Arabisch und Englisch, hat viele Urlaube dort verbracht. 2019 beendet sie die Uni als ausgebildete Englisch-Lehrerin.
Ihren Mann kennt Sahra schon länger, irgendwann treffen sie sich wieder und verlieben sich. „Anfangs haben wir eine Fernbeziehung geführt. Ich bin nicht seinetwegen endgültig in den Libanon gegangen.“ Vielmehr habe sie das Leben dort genossen: „Man wacht mit der Sonne auf, die Menschen sind freundlich. Zwar arbeiten alle, aber sie haben das Leben und die Familie im Fokus. Die Lebensqualität war toll.“
Sahra und Hussein heiraten 2020 und gründen eine Familie
Das Paar heiratet im Oktober 2020, Sahra arbeitet bei einer Firma, die Software für Lager-Roboter entwickelt. Sie betreut die Kunden in Deutschland, Frankreich und England, wenn sie Probleme mit den elektronischen Helfern haben. Ihre beiden Kids bekommt sie in Duisburg: „Im Libanon ist das Krankenhaus weit weg. Außerdem haben die Kinder so den deutschen Pass.“ Bis zum Beginn der Angriffe Israels auf den Libanon führt Sahra ein unbeschwertes Leben: Sie zieht mit ihrer Familie in ein eigenes Haus, der Job macht Spaß, ihr Hussein ist ein liebevoller Vater.
Der Kriegszustand macht einen normalen Alltag unmöglich: „Ständig waren Drohnen am Himmel zu sehen und Militärjets sind über uns geflogen“. Als die Rakete im benachbarten Mandelbaum-Hain explodiert ist, hatte Sahra gerade die Kleine schlafen gelegt und geduscht, der Sohn war mit seinem Papa unterwegs. „Ich stand im Bademantel im Haus. Ich habe nur das Licht gesehen und schon war die Bombe unten. Entgegen der Behauptungen der Israelis hat es keine Evakuierungswarnung gegeben.“ Sahra spürt die Druckwelle im Rücken, Dinge fliegen durch die Gegend: „Ich hatte nur einen Gedanken: mein Baby schützen.“
Sahra holt das Baby aus seinem Bettchen setzt sich in eine Ecke, um sich vor herunterfallendem Glas zu schützen. Dann telefoniert sie mit Hussein, zieht sich schnell an, schnappt sich die Dokumententasche, ihren Laptop und kramt ein paar Sachen für die Kinder zusammen. „Mein Mann war in fünf Minuten da. Wir sind zu meinen Schwiegereltern, wo wir auf Matratzen auf dem Boden geschlafen haben.“
Sahra kann auf ihre Mutter und die beiden Schwestern zählen
Dann die Flucht nach Duisburg. Sahra kann auf ihre Mutter und die beiden Schwestern zählen. Die drei hatten sie schon länger zur Rückkehr gedrängt – aus Angst, dass es irgendwann keine Möglichkeit mehr gibt, den Libanon zu verlassen. Sahra versucht, für ihre Kinder ein normales Leben zu führen, ihnen nicht zu zeigen, wie es in Innerem aussieht: „Eigentlich könnte ich den ganzen Tag nur flennen, aber ich reiße mich zusammen.“
Der Kleine wird nachts wach und schreit nach seinem Papa. Sahra versucht, so oft wie möglich mit ihrem Mann zu telefonieren. Hussein schickt Fotos von ihrem Haus: Inzwischen hat eine Bombe das halbe Dach zerstört. „Nachts schlafe ich schlecht. Das erste und letzte ist jeden Tag, das Telefon zu checken, ob was passiert ist.“
Dann wird aus der größten Angst plötzlich bittere Realität. Sahra bekommt den Anruf, dass ihr Mann tot ist.
Eine Bombe hat einen Treffpunkt für Frauen getroffen, in dem Hilfslieferungen lagern. Dort ist Hussein unterwegs. In den letzten Wochen hat er viel Zeit damit verbracht, Bedürftigen in seiner Stadt zu helfen. „Neben Hussein sind bei dem Angriff zehn andere Menschen gestorben. Nur sein Körper war intakt. Alle anderen waren so zerstückelt, dass man lange gebraucht hat, alle Toten zu identifizieren“, sagt Sahra. Es ist der 25. November. Nur zwei Tagen später beginnt die 60-tägige Waffenruhe zwischen Israel und Libanon. Hussein ist nur 32 Jahre alt geworden.
Sahra sagt: „Ich fühle mich verloren ohne Hussein“
Völlig geschockt fliegt Sahra in den Libanon. Ihr Vater begleitet sie. „Mein Sohn dachte, wir fliegen zu seinem Papa. Er war voller Vorfreude“, sagt Sahra. Wie erklärt man einem Zweijährigem, dass sein Vater tot ist? „Papa ist jetzt bei Gott und in deinem Herzen. Er guckt aber weiter auf dich“, sagt Sahra zu dem Kleinen. „Er weiß, dass etwas nicht stimmt und dass sein Papa nicht mehr nach Hause kommt. Aber es ist für ihn sehr abstrakt.“
Sahra beerdigt ihren geliebten Hussein, bleibt noch ein paar Tage dort. Die Kleinstadt ist weitgehend zerstört. „Es gibt kaum ein Haus mit intakten Fenstern.“ Es tut ihr gut, Zeit mit Husseins Familie zu verbringen. Sie spricht mit Frauen, die dasselbe Schicksal erlitten haben wie sie. Das hilft ihr ein wenig.
Zurück in Deutschland, sagt Sahra: „Ich fühle mich verloren. Er war meine rechte Hand, ich seine linke. Ich muss gerade mein ganzes Leben umkrempeln. Kein Teil ist unversehrt geblieben.“ Wer wird sich um die Kinder kümmern, wenn ihr etwas passiert? Wo will sie leben? Zum Glück kann Sahra ihren Job von überall auf der Welt erledigen. Für den Libanon verdient sie sehr gut, für ein Leben in Deutschland wird ihr Gehalt aber nicht reichen.
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„Ich weiß noch nicht, wie es weitergeht.“ Sahras Schwestern haben ihr während ihrer Abwesenheit eine Etage im Haus der Mutter renoviert. Eventuell geht sie aber auch eine Zeitlang zurück in den Libanon, wenn es wieder möglich ist. „Ich möchte zu Husseins Grab gehen können. Und es tut mir gut, den Schrank meines Mannes aufzumachen und seinen Geruch zu riechen.“ Sahra möchte ihr altes Leben nicht so einfach kappen.
„Hussein und ich haben vor dem Krieg darüber gesprochen, wie wir unsere Zukunft planen.“ Die Idee war, noch ein paar Jahre im Libanon zu bleiben, damit die Kinder fließend Arabisch sprechen lernen und dann vielleicht zu Husseins Schwester nach Frankreich zu ziehen. Also erst einmal zurückgehen und das teils zerstörte Haus wieder zu einem Zuhause machen? Vielleicht. „Wahrscheinlich werde ich viel reisen, solange die Kinder noch so klein sind.“
Viele Gewissheiten hat Sahra im Augenblick nicht. Sie sagt: „Ich muss stark sein für die Kinder. Und ich bin nicht allein mit meiner Situation. Ich konnte mich nicht darauf vorbereiten. Aber ich bin auch dankbar für vieles.“ Sie weiß, dass sie eine schwere Zeit vor sich hat – und ihr kleiner Sohn sie noch lange jeden Abend vor dem Schlafengehen fragt: „Wo ist Papa?“
>> Spendenaktion gestartet: Sahra versucht, von Deutschland aus zu helfen
- Sahra hat schon vor Wochen eine Spendenaktion bei Gofundme gestartet. Sie wollte nicht tatenlos in Duisburg zuschauen, sagt sie. „Die Menschen kommen ja teilweise in ihren bombardierten Häusern an nichts mehr heran.“ Außerdem haben viele Probleme, bei Verletzungen das Krankenhaus zu bezahlen.
- Auch Geschäfte seien komplett zerstört, wie etwa der Eierhandel der Familie einer Freundin. „Den Laden gibt es seit 1978. Jetzt steht nur noch ein Türbogen.“ Sahra hat bisher über 7700 Euro gesammelt, es kann aber noch weiter gespendet werden. „Hussein hat sich darum gekümmert, dass die Spenden ankommen. Das übernimmt jetzt mein Schwiegervater.“