Duisburg. Urteil gegen Hells Angel und Clan-Mitglied nach der Schießerei von Hamborn: Nur einer der Rivalen bleibt in Haft. Laute Vorwürfe im Gerichtsaal.
Sie rannten im Mai 2022 mit gezückten Pistolen über den Hamborner Altmarkt und feuerten wild Schüsse ab. Jetzt ist klar: Kamil D. (39), Mitglied eines berüchtigten türkisch-libanesischen Clans, muss dafür jahrelang in Haft. Hells Angel Oktay K. (ebenfalls 39) hat einen Teil seiner Haftstrafe durch die knapp einjährige Untersuchungshaft bereits abgesessen. Das Duisburger Gericht verurteilte am Donnerstag beide Rivalen.
Kamil D. wurde wegen gefährlicher Körperverletzung, fahrlässiger Körperverletzung, Landfriedensbruch sowie Verstößen gegen das Waffengesetz zu einer Gesamtstrafe von fünf Jahren verurteilt. Das Strafmaß gegen Oktay K. fiel vergleichsweise milder aus. Die fünfte große Strafkammer verurteilte ihn wegen fahrlässiger Körperverletzung, Landfriedensbruch und ebenfalls Verstößen gegen das Waffengesetz zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft. Allerdings: Der Haftbefehl gegen ihn wird ausgesetzt. Er verließ das Gericht zunächst als freier Mann. Die Erleichterung war dem kantigen Duisburger anzusehen.
Clan-Mitglied Kamil D. nahm das Urteil mit verschränkten Armen zur Kenntnis. Seine Eltern, Brüder, Cousins und Cousinen wetterten anschließend lautstark. „Korruption“ und „Betrug“ warfen sie dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Presse in teilweise gebrochenem Deutsch vor.
Schießerei in Duisburg-Hamborn: Eine Fehde mit Vorgeschichte
Die Details: Was zu der Eskalation und dem Tumult mit über 100 Beteiligten am Abend des 4. Mai 2022 führte, ist auch nach 15 Verhandlungstagen nicht endgültig geklärt. Es ranken sich Gerüchte um Besitzansprüche, verletzten Stolz und Machtspiele. Kamil D. war wohl das Bindeglied zwischen den verfeindeten Lagern: Drei Jahre soll er Mitglied des Rockerclubs gewesen sein. Doch dann folgte in irgendeiner Form ein Bruch. Kamil D. wollte sich wohl nicht den strengen Vorgaben unterwerfen, lehnte unter anderem eine Tätowierung ab. Verließ er das Duisburger Charter der Rocker deshalb im Streit? Der Verteidiger des 39-Jährigen sagt „nein“. Kamil D. sei im „Guten“ gegangen. Belege dafür oder dagegen gibt es nicht.
Ein zweites Gerücht, das sich seit über zwei Jahren hartnäckig hält: Es soll Streit um einen Dönerladen der Kette „Dönaladn“ im Umfeld des Marktes zwischen den Rockern und dem Clan gegeben haben. Demnach schmeckte den Hells Angels nicht, dass der Inhaber, der Bruder von Kamil D., sich in ihrem selbsternannten „Wohnzimmer“ niederließ. Wollten sie den Laden mit Gewalt übernehmen oder verlangten sie Schutzgeld? Auf diese Fragen gibt es bislang keine Antwort. Die Kammer um den Vorsitzenden Mario Plein sah in dem Lokal jedoch den Hauptauslöser für die Fehde zwischen den Gangs.
Fest steht hingegen: Beide Lager wollten an dem Mai-Abend ein Zeichen setzten. Viele Männer reisten aus umliegenden Städten an. Zunächst soll ein klärendes Gespräch geplant gewesen sein. Doch die Lage eskalierte. „Was passiert ist, war scheiße. Es tut mir leid“, sagte Oktay K. in seinem kurzen Schlusswort. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft, waren es „Glück“ und „Zufall“, dass es „nur“ vier Verletze gab. „Es hätte auch Tote geben können“, verdeutlichte der Staatsanwalt und hob an dem belebten Marktplatz die Gefahr für Unbeteiligte hervor. Für Kamil D. forderte er eine Gesamtstrafe von sieben Jahren und zehn Monaten, für Oktay K. von sechs Jahren und zehn Monaten. Dem Rocker hielt er zugute, dass er früh in dem zähen Prozess gestanden hatte und nach Meinung der Staatsanwaltschaft das Clan-Mitglied das Feuer eröffnet hatte.
Strenge Regeln: Zeugen schweigen vor Gericht
Doch gerade um die Frage, wer tatsächlich als Erstes eine Waffe zückte, wurde in der Verhandlung gerungen. Für die Kammer waren es herausfordernde Prozesstage. Denn: Viele Zeugen schwiegen vor Gericht. Sie verwiesen – wie etwa der Vater von Kamil D. – im Zeugenstand darauf, dass sie mit dem Angeklagten verwandt seien. Junge Männer, die dem Umfeld des Clans zugerechnet werden, beriefen sich auf den Paragrafen 55 der Strafprozessordnung, da sie wie Dutzende weitere Personen als Beschuldigte in dem großen Ermittlungskomplex geführt werden. Bedeutet: Trotz ihres vermeintlichen Mitwirkens bei der Eskalation durften sie eigentlich sprechen, wollten es jedoch nicht.
Dazu sollte man wissen: In den Großfamilien gilt, ähnlich wie in den italienischen Mafia-Familien, die „Omertà“, die Schweigepflicht. Die deutsche Justiz erkennen sie außerdem nicht an. Konflikte werden mit zum Teil hochbezahlten „Friedensrichtern“ abseits der Öffentlichkeit geklärt.
Bis auf eine Ausnahme sah es auch auf Seiten der Rocker nicht anders aus. Die strengen Regeln der Hells Angels verbieten ebenfalls Aussagen gegenüber der Polizei oder vor Gericht. Deshalb war das Geständnis von Oktay K. umso erstaunlicher.
Ringen um Videos von der Schießerei
So kam dem umfangreichen Bild- und Videomaterial eine zentrale Bedeutung zu. Sie zeigen Schreiereien im nördlichen Teil des Altmarkts, wo sich die verfeindeten Gruppen gegenüber stehen. Dann verlagert sich das Geschehen in den Bereich der MZD-Apotheke, Jagd-Szenen, Schüsse hallen über den Platz. Als sich die Mitglieder der Großfamilien weitestgehend zurückgezogen haben, hört man Scheppern und Klirren, die Hells Angels verwüsten den Dönerladen. Dann sind Polizei-Sirenen zu hören. Der Tumult ist vorerst beendet.
Die Interpretation der Aufnahmen fiel jedoch unterschiedlich aus. Die Staatsanwalt sprach von gezielten Schüssen und legte beiden Angeklagten unter anderem versuchten Totschlag zur Last. Der bekannte Verteidiger Wolf-Michael Bonn sah bei seinem Mandaten Notwehr und war in seinem 90-minütigem Plädoyer bemüht, die komplizierte Gemengelage im Clan- und Rockermilieu zu skizzieren. Sogar eine Kaution von 100.000 Euro könne die Familie stellen, um den Haftbefehl auszusetzen.
Die drei Anwälte von Oktay K. sahen ebenfalls eine Notwehr-Situation, da schließlich auf ihren Mandanten geschossen worden sei. Dem stimmt das Gericht in der Urteilsbegründung teilweise zu. Der Hells Angel habe auf die Schüsse von Kamil D. „reagiert“. Das Clan-Mitglied habe also als erstes eine Schusswaffe gezogen. Er habe wie Oktay K. die Tötung eines Rivalen in Kauf genommen. Beide seien allerdings im Laufe des Tumults von der Absicht zurückgetreten. Diese Ansicht rettete die beiden Männer offenbar vor deutlich höheren Strafen.
>>28 Schüsse am 4. Mai 2022
- Um die 30 Schüsse wurden bei der blutigen Eskalation auf dem Marktplatz im Duisburger Norden abgegeben. Nach Ansicht der Ermittler schoss Kamil D. dabei neunmal. Oktay K. soll siebenmal abgedrückt haben.
- Als die Polizei wenige Wochen nach der Schießerei die Wohnungen der beiden Männer durchsuchte, fanden sie jeweils mehrere Waffen.
- Der Prozess fand im Duisburger Gericht unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und unter viel Polizeipräsenz statt.