Duisburg. Robert Hunger-Bühler gastiert in Yasmina Rezas neuem Solostück „Anne-Marie die Schönheit“ im Duisburger Theater. Große Kunst in feinen Nuancen.

Ein Schauspieler bereitet sich auf eine Frauenrolle vor. Mit kleinen, präzisen Bewegungen schminkt er sich, legt Lippenstift auf, zupft an seinem schütter werdenden Haar und bindet eine Schleife um den Hals. Ein paar müde Glühbirnen spenden ein spärliches Licht. Es ist die Ouvertüre zu einem großen Theaterabend der feinen Nuancen in Duisburg.

Robert Hunger-Bühler spielt „Anne-Marie die Schönheit“ von Yasmina Reza. Das Theater Freiburg brachte diesen Soloabend als Gastspiel ins Stadttheater. Anne-Marie ist Schauspielerin. Über Jahrzehnte hat sie auf den verschiedenen Bühnen gestanden, doch ein großer Star war sie nie. Die großen Rollen bekam immer ihre Freundin Giselle. Sie stand im Rampenlicht, feierte Erfolge beim Film, hatte mehr und interessantere Liebhaber und mehr Kinder.

Ein Abend im Schwebezustand

Für Anne-Marie blieben die Nebenrollen, ein Mann, den man vielleicht noch als „passabel“ akzeptieren kann, und ein Sohn, den sie als „Mistfink“ bezeichnet. Jetzt ist Giselle gestorben. Ihr Tod gibt Anne-Marie die Chance zu einem vielleicht letzten Interview. Doch stimmt das überhaupt? Oder bereitet sich Anne-Marie in ihrem fast zweistündigen Monolog nur auf ein Gespräch vor, das nie stattfinden wird?

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Der Text von Yasmina Reza und die Inszenierung von Peter Carp lassen diese Frage unbeantwortet. Robert Hunger-Bühler entwickelt aus dieser Unsicherheit einen eigenartigen Schwebezustand, der den Abend trägt. „Ich hatte ein glückliches Leben, wissen Sie“, sagt Anne-Marie, und Robert Hunger-Bühler spricht den einfachen Satz so, dass Selbstbetrug, vorgetäuschte Zufriedenheit und ein Hauch Wahrheit mitschwingen.

Autorin Yasmina Reza wollte einen Mann für die Frauenrolle

Die Idee, die Anne-Marie von einem Mann spielen zu lassen, stammt von Yasmina Reza selbst. In der französischen Uraufführung war das André Marcon und in der deutschsprachigen eben Robert Hunger-Bühler. Wie der Autorin geht es ihm nicht um eine perfekte Travestie, nicht um die große Lebensbeichte oder eine finale Enthüllung. Sicher schwingen solche Elemente mit, aber im Kern geht es um eine mögliche Annäherung an Alter und Tod. Robert Hunger-Bühler stattet seine Figur zwar mit den Erfahrungen eine Frau aus, zeigt aber eher ein androgynes Wesen, das vor den großen Fragen des Lebens steht.

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Anne-Marie ist fast allein auf dieser Welt. Giselle, ihr Mann und sogar der verehrte Hausarzt sind mittlerweile tot, nur der ungeliebte Sohn besucht sie. Und so trudelt sie durch ihre Erinnerungen, kämpft mit Unsicherheit und Vergesslichkeit oder vielleicht schon drohender Demenz. Dabei hofft sie noch immer auf ein paar Rollen am Theater. Zerbrechlich ist diese Frau geworden, nur ihr neues Knie aus Titan ist gemacht für die Ewigkeit.

Eine subtile Lehrstunde der Schauspielkunst

Es sind auch die kleinen, zarten Bewegungen, die Robert Hunger-Bühler so wunderbar einsetzt.
Es sind auch die kleinen, zarten Bewegungen, die Robert Hunger-Bühler so wunderbar einsetzt. © Schauspiel Duisburg | Britt Schilling

Mit unsicheren Schritten lässt Hunger-Bühler sie durch das einfache Bühnenbild (Kaspar Zwimpfer) sachte trippeln oder stolpern. Er nimmt die Steilvorlage des Textes auf und macht daraus ein Fest der Schauspielkunst. Konzentriert kostet er den Text aus, wägt ab und lässt Deutungsmöglichkeiten erahnen. Er gestaltet die Anne-Marie aus kleinen, zarten Bewegungen und fordert damit das Publikum zum genauen Hinsehen und Hören heraus. Wunderbar, wie er seine Figur mit einem Abendkleid spielen lässt und dem fließenden Stoff ein Eigenleben gibt.

Einmal, ganz am Schluss, gestattet er der Anne-Marie ein bisschen Lautstärke und Pathos. Da schreit sie die Namen längst verstorbener Schauspielerinnen und Schauspieler heraus. Sie gehörten zu einer Provinztheater-Truppe, die in ihrer Kindheit inmitten von Staub und Rauch eine Art Botschafter von Schönheit und Imagination waren.

Und so ist „Anne-Marie die Schönheit“ auch eine Hommage an die Kraft des Theaters. Der großartige Robert Hunger-Bühler machte daraus eine subtile Lehrstunde der Schauspielkunst.

>> EIN UNVERGESSENER MEPHISTO

  • Der 1953 im schweizerischen Thurgau geborene Robert Hunger-Bühler zählt zu den renommiertesten Bühnenschauspielern im deutschsprachigen Raum.
  • Seine Karriere führte ihn u.a. ans Burgtheater Wien, die Berliner Volksbühne, das Zürcher Schauspielhaus und das Berliner Ensemble.
  • Unvergessen bleibt sein „Mephisto“ in Peter Steins legendärer Faust-Inszenierung aus dem Jahr 2000. Bekannt ist Hunger-Bühler auch durch zahlreiche Film- und Fernsehrollen.