Dortmund. Immer mehr Kinder in Dortmund weisen vor der Einschulung erhebliche Defizite auf. Eine Lehrerin sieht darin auch eine Folge der Corona-Pandemie.

Sie haben Probleme beim Sprechen, ein auffälliges Sozialverhalten oder sind schlicht zu dick: Immer mehr Fünf- bis Sechsjährige in Dortmund weisen vor der Einschulung erhebliche Defizite auf. Sind die Defizite besonders gravierend, werden die Kinder zurückgestellt, ihre Einschulung also um ein Jahr verschoben – und diese Zahl hat sich vom Schuljahr 23/24 zum Schuljahr 24/25 fast verdoppelt.

„Gesundheit ist eine wesentliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Schulbesuch“, schreibt die Stadt Dortmund auf ihrer Internetseite. Um das zu gewährleisten, finden vor jedem Schuljahr Schuleingangsuntersuchungen statt. Sind die Kinder reif genug für die erste Klasse? Dieser Frage gehen Ärztinnen und Ärzte dann nach.

+++ Folgen Sie der WAZ Dortmund auf Facebook und Instagram +++

Einschulungen in Dortmund: Kinder werden öfter zurückgestellt

Werden dabei Auffälligkeiten festgestellt, zeigen sie den Eltern individuelle Fördermöglichkeiten auf oder machen Therapievorschläge. In einigen Fällen wird auch eine Zurückstellung empfohlen. Die Schulleitungen entscheiden am Ende selbst, ob sie der Empfehlung folgen.

Und das tun sie in zunehmendem Maße. Wurden von den Dortmunder Grundschulen vor dem Schuljahr 2019/20 noch 39 Zurückstellungen gemeldet, waren vor dem laufenden Schuljahr 143 Kinder davon betroffen. Dieser letzte Sprung war besonders groß – vor dem Schuljahr 2023/24 hatte die Zahl nämlich noch 78 betragen. Das geht aus Antworten der Stadt auf Anfragen der Grünen und der Fraktion Die Linke Plus hervor.

Bei der Schuleingangsuntersuchung wird unter anderem die selektive Aufmerksamkeit und visuelle Wahrnehmung von Kindern getestet – auch mit technischen Hilfsmitteln. (Archivbild)
Bei der Schuleingangsuntersuchung wird unter anderem die selektive Aufmerksamkeit und visuelle Wahrnehmung von Kindern getestet – auch mit technischen Hilfsmitteln. (Archivbild) © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Welche Ursachen hat diese Entwicklung? Nach Einschätzung der Stadt ist sie unter anderem auf einen Anstieg „sozialmedizinischer Aspekte“ zurückzuführen. Gemeint sind damit etwa Traumata aufgrund von Flucht oder Migration sowie fehlende soziale Kompetenzen der Kinder.

Mangelnde Sprachanreize und fehlende Deutschkenntnisse

Legt man Statistiken der Schuleingangsuntersuchungen zugrunde, haben insbesondere im Bereich Sprachkompetenz viele angehende Grundschüler Probleme – mittlerweile fast jedes zweite Kind, nicht nur aus Zuwandererfamilien. Der Anteil der Jungen und Mädchen mit entsprechenden Auffälligkeiten stieg seit 2013 von rund 28 Prozent auf rund 40 Prozent (vorläufiger Wert für 2024). „Als ursächlich werden hier mangelnde Sprachanreize im häuslichen Umfeld und fehlende Deutschkenntnisse betrachtet“, erklärt Stadt-Sprecherin Anke Widow.

Häufig werden auch Defizite im Bereich der Körperkoordination festgestellt, wenngleich die Zahl hier weniger stark steigt: Von 17,5 Prozent im Jahr 2013 auf inzwischen rund 19 Prozent. Die Gründe dafür seien mangelnde Bewegungsanreize sowie „eine unausgewogene, fett- und zuckerlastige Ernährung“, so Widow. Im Rahmen der Untersuchung wird auch der Body-Mass-Index ermittelt.

Auch interessant

Der dritte maßgebliche Indikator für die Schulreife ist die Entwicklungskompetenz. Dabei liegen selektive Aufmerksamkeit, Motorik und visuelle Wahrnehmung im Fokus. Hier schwankte der Wert in den Jahren 2013 bis 2018 zwischen zwölf und 18 Prozent. Für das abgelaufene Jahr wurde ein vorläufiger Wert von 18,9 Prozent ermittelt.

Lehrerin zur Corona-Pandemie: „Es ist einiges auf der Strecke geblieben“

Und welche Beobachtungen machen Lehrer? Jutta Portugall, Leiterin der Lieberfeld-Grundschule in Wellinghofen, bemerkt immer noch starke Auswirkungen der Corona-Pandemie. Über einen langen Zeitraum konnten Kinder nicht oder nur eingeschränkt in die Kita gehen. Dabei ist das, was dort gelernt wird, Grundlage für den Schulalltag: soziales Interagieren mit anderen Kindern, Sprechen, Feinmotorik. „Bei der Frühförderung ist zuletzt einiges auf der Strecke geblieben“, sagt die Sprecherin der Dortmunder Grundschulen.

Mehr zum Thema

Für Portugall zeigen die vielen Zurückstellungen einmal mehr auch den hohen Bedarf sowohl an Kitaplätzen selbst, als auch an betreuendem Personal. Ein Problem ist hierbei übrigens: Mangelnde Kapazitäten der Kitas erhöhen einerseits das Risiko, dass Kinder Auffälligkeiten entwickeln – daraus resultierende Zurückstellungen wiederum belasten den Kita-Betrieb, da sie die Plätze ein weiteres Jahr binden. Auch die Stadt sieht im Ausbau der vorschulischen Förderung das wichtigste Instrument, um Kinder gezielt in ihrer Schulreife zu stärken.

Vieles liege aber auch in der Verantwortung der Väter und Mütter, ergänzt Jutta Portugall: „Wir appellieren bei jeder Infoveranstaltung an die Eltern, ihre Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen.“ Die Kinder müssten Vertrauen in die Bindung zu den Eltern haben, um überhaupt mehrere Stunden am Tag weg sein zu können. „Einige können sich gar nicht trennen, klammern sich vor der Schule an die Eltern und schreien.“

+++ Mehr Nachrichten aus Dortmund lesen Sie hier +++

Wichtig, aber keinesfalls mehr selbstverständlich sei außerdem: In der Familie gemeinsam Zeit verbringen, spielen, lesen, raus in die Natur gehen. „Die Digitalisierung macht es natürlich nicht einfacher“, sagt die Schulleiterin. Viel Zeit werde heutzutage am Smartphone verbracht.