Dortmund. Marie Christine Lanfermann (22) hat einen harten Weg hinter sich. Einen nicht minder schweren vor sich. 1999 berichtete die WR erstmals über das so muntere wie ehrgeizige Mädchen und seine Probleme. Mittlerweile könnte man ein Buch über sie schreiben. Und das aus nur einem Grund: Marie Christine Lanfermann ist behindert. Wollte sich aber nie damit abfinden.
Ob bei den Vereinten Nationen, in der Landespolitik oder auf Fachtagungen der Stadt - Politiker reden gern über das Thema „Inklusion“ - die Chancengleichheit von behinderten und nichtbehinderten Menschen. Es ist en vogue. Manch einer schmückt sich mit den (angeblichen) Erfolgen auf diesem komplexen Gebiet. Aber nur die Betroffenen wissen, wie sich Inklusion anfühlen müsste. Menschen wie Marie Christine Lanfermann.
Viel Frustpotenzial
Die 22-Jährige, die schon vor 12 Jahren Monate darauf warten musste, bis ihre Realschule in Aplerbeck - nach öffentlichem Druck - endlich eine Rampe bekommen sollte. Was damals im Kleinen schon ein großer Erfolg schien, ist rückblickend nur ein Puzzlestück in einem unschönen Gesamtbild. Die Hindernisse für Behinderte hatten viele Gesichter, viele Dimensionen, viel Frustpotenzial.
Marie Christine hatte schon in der Realschule eine Assistentin und einen PC, der ihr beim Schreiben half. Sie war Klassenbeste, hatte einen Notenschnitt von 1,5 - und trotzdem alle vier Wochen einen unerklärlichen „Beratungstermin“ in der Schule. Bis Klasse 8 nahm sie am Sportunterricht teil, so gut es eben ging. Und das war alles andere als leicht, wenn man bedenkt, dass sie einen frühkindlichen Hirnschaden hatte, der ihre Bewegungsfreiheit radikal einschränkt. Der Fachmann spricht von Tetraspastik.
Gleichbehandlung scheitert vor der Treppe
Der Laie sieht ein Mädchen, das im Rollstuhl sitzt und kaum die Finger bewegen kann. Dessen Körper sich versteift, wenn es ihm schlecht geht. Trotzdem machte Marie Christine beim Sport mit. Selbst Basketball, „auch wenn ich den Korb nie getroffen habe“, erinnert sie sich. Bis man ihr einen Korb auf 1,20 Meter Höhe vor den Rollstuhl stellte. In der achten Klasse sauste sie mit dem Rolli vor die Wand - danach wurde sie vom Unterricht befreit.
Trotz guter Noten wurde auch Mathe zum Spießrutenlauf. Sie konnte gut rechnen, aber schlecht zeichnen. Ihre Assistenz übernahm das, folgte ihren Anweisungen. Allein, ihre Lehrerin tat sich schwer damit und unterband die Hilfe. Und ihre Mitschüler? „Die haben alle versucht, mich zu integrieren.“ Doch manchmal endete die Gleichbehandlung schon vor drei Treppenstufen. Wie bei der Verleihung des Abschlusszeugnisses für die Klassenbesten. „Fünf Schüler standen auf der Bühne und zu mir kam die Direktorin die Treppe runter.“ Keiner habe daran gedacht, dass man sie auch auf die Bühne hätte heben können.
Defekte Türöffner
Marie Christine ist eine Kämpfernatur. Sie wollte mehr. Sie wollte ihr Abi bauen. Die Frage war nur: wo? War das Gymnasium in Aplerbeck auf sie vorbereitet, die Gesamtschule in Brackel oder ein City-Gymnasium? Am Ende wich die Schülerin nach Holzwickede aus. Deutsch- und Sowi-Leistungskurs, Abi mit 2,5. Sie wollte mal Jura studieren, entschied sich aber für Journalistik. Vielleicht ein Fehler, ahnt sie heute. „Es ist schwierig, Praktika und Ausbildungsplätze zu finden. Man konnte mich nicht vermitteln.“ Und manch einer „hat mich wie ranzige Butter behandelt.“ Da ist es fast schon eine Petitesse, dass die automatischen Türöffner der TU Dortmund alles machen, nur nicht automatisch die Türen öffnen.
Mobbing an der Uni und bei der Arbeit
Und das, nachdem sie mühevoll dem Landschaftsverband Westfalen Lippe habe erklären müssen, warum sie denn studieren wolle und finanzielle Hilfe dafür brauche. Der Antrag war 17 Seiten dick. So dick wie die Bretter, die sie immer wieder bohren muss, um ihre Mitmenschen von ihrer Leistungsfähigkeit zu überzeugen.
Bei einem Volontariat in der Pressestelle der Verwaltung einer Nachbarstadt „hat man mich gemobbt. Ich sollte täglich zehn Stunden sitzen und durfte aus versicherungstechnischen Gründen nicht aufstehen“, sagt die 22-Jährige. Sie durfte ihr Spracherkennungsprogramm, das für sie schreibt, nicht auf den Rechner spielen. Man habe sogar ihre Toilettengänge gezählt und ihr immer wieder gesagt: „Frau Lanfermann, Sie müssen sich integrieren!“ Nach sechs Monaten sei sie krank geworden, habe abgebrochen. Das Volontariat sei bis heute nicht angerechnet worden.
Anwälte eingeschaltet
Zwei Anwälte musste sie in ihrem jungen Leben schon einschalten. Drei Jahre dauerte es allein, bis sie einen Steuerberater fand, der sich gut mit den finanziellen Besonderheiten behinderter Menschen auskennt. Selbst heute, wenn sie bei der Museumsnacht nach 21 Uhr vor der verschlossenen Behindertentoilette sitzt, muss sie sich vom Personal fragen lassen, warum sie um die Uhrzeit nicht schon im Bett sei.
Für die 22-Jährige steht fest: „Normal zu leben, ist für mich unmöglich. Nicht, weil ich behindert bin, sondern, weil ich behindert werde.“ Theoretisch sei für Behinderte vieles möglich. Praktisch werde aber viel zu wenig gemacht. „Vielleicht, weil die Gesellschaft so ist, wie sie ist.“