Dortmund.. Ausnahmezustand in Dortmund: Ein Bombenfund aus dem Zweiten Weltkrieg hielt die Stadt bis kurz vor Mitternacht in Atem. Ein Krisenstab tagte, unzählige Rettungswagen hielten sich bereit, Wohnungen von 7100 Menschen wurden evakuiert. Um 23.56 Uhr die Erlösung: Die Bombe ist entschärft.

Sirenen. Überall Sirenen. Dortmund, ein einziges Geheule. Es ist die Melodie, die sich unter diesen Donnerstag legte wie der Soundtrack unter einen Film. In diesem Fall war es ein Katastrophenfilm.

Wieder ist es eine Bombe. Dienstag noch Duisburg, jetzt also Dortmund. Wieder hat dieses explosive Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg einen Säurezünder. Nur diesmal ist die Lage noch viel brisanter, viel gefährlicher: Bei Baggerarbeiten wurde eben jener Zünder beschädigt. Alarmstufe Rot! Sprengen oder entschärfen? Evakuieren, ja sicher, nur in welchem Radius: 500 oder 1000 Meter? Und wie lange? Es ist bereits Nachmittag, gegen 16 Uhr, als so viele Fragen drängen und so viele Antworten auf sich warten lassen. Es ist jene Zeitspanne, in der es im Stadtkern zu Szenen kommt, die an ein großes Unglück erinnern.

Als der Krisenstab im Dortmunder Stadthaus plant, hat die Polizei den Bereich rund um die Bombe auf 100 Meter vollständig abgesperrt. Hier darf niemand durch. Nichts geht mehr. Lediglich die mutigen Männer vom Kampfmittelräumdienst, die später die Katastrophe verhindern sollten - um 23.56 Uhr war der Blindgänger entschärft -, kommen der Bombe nah. Oder man kann sehr gute Gründe vorweisen. „Nein, Zahnpasta und Wechselunterwäsche sind jetzt irrelevant. Sie sind sich offensichtlich der Situation nicht bewusst?“, muss ein Polizist einer verunsicherten, älteren Anwohnerin erklären. Verübeln kann man es ihr nicht: Ein Dixie-Klo, Bauzäune, ein Bauschild – mehr ist nicht zu sehen von der Gefahrenstelle, die Dortmund in Atem hält.

Bombe7100 Menschen von Evakuierung betroffen

Dann plötzlich die Info: Die Evakuierung wird einen Radius von 1000 Meter betragen. Hektik bricht aus, es wäre der schlimmste Fall: Drei Krankenhäuser mit weit mehr als 1000 Patienten müssten dann vollständig evakuiert werden. Ganz zu schweigen von den Intensiv-Patienten. Selbst die rund 100 Rettungswagen, die sich mittlerweile auf dem Vorplatz der Westfalenhalle aus vielen Städten bereit hielten, wären an ihre Belastungsgrenze gekommen.

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Im städtischen Klinikum war der Feierabend mittlerweile ausgesetzt worden – alle müssen bleiben. Auf den Piepern, über die Pfleger ihre Aufträge erhalten, blieb es stumm. Ebenso ruhig wie die Kulisse auf den Gängen. War es die Ruhe vor dem Sturm? Nein. Eine Stunde später kam es nämlich dann doch noch, das Dementi: Der Radius beträgt nur 500 Meter und betrifft somit 7100 Menschen. Allerdings stehe wohl in unmittelbarer Nähe ein Hochspannungshäuschen. Sollte es eine Detonation geben, die dieses beschädigt, fällt hier großflächig der Strom aus. Auch das noch!

Angehörige wollen ihre Liebsten besuchen und sorgen für Verkehrschaos

Die Kita Fabido leert sich in diesen Minuten. Alle Eltern wurden informiert und, na klar, alle sind gekommen. Auch Ole, vier Jahre jung, wurde abgeholt. „Weil da eine Bombe ist. Und die kann ‘bumm’ machen“, sagt er mit kindlicher Selbstverständlichkeit. Die Hektik um ihn herum, die telefonierenden, eilenden Menschen, die unzähligen Autos, die sich den Weg zum Krankenhaus bahnen, weil Angehörige bei ihren kranken Liebsten sein wollen – er bemerkt sie nicht.

Vor dem Kinderklinikum wartet indessen Werner Lau. Er ist Vater eines jungen Patienten und muss trotzdem draußen bleiben. „Mein Sohn wird glücklicherweise heute entlassen. Sonst wäre das hier als Elternteil ein Hammer!“, sagt er und meint: ein Debakel.

Das ist es auch für Jan und Jule. Sie sind fast unmittelbare Nachbarn der Bombe. Ein junges und jetzt wohl für alle Zeit belastetes Nachbarschaftsverhältnis, schließlich sind die Zwei doch erst vor einem Monat auf die Friedrichstraße gezogen. Diesmal ziehen die beiden große Koffer hinter sich her, sie hat noch drei Handtaschen über die Schulter geworfen, er hat noch Tüten in der Hand. Nur das Wichtigste. „Mist, jetzt haben wir die Koffeintabletten vergessen“, scherzt Jule, die mit Jan zu Freunden flüchtet. „Gutes Nächtl“, ruft Jule noch und tappt durch den Nieselregen davon. Es kann eine lange Nacht werden. Wie lange, das weiß selbst um 17 Uhr noch niemand.

50 Sandsäcke wurden gefüllt

Was sie in den frühen Abendstunden aber wissen: Selbst die nahe gelegenen Krankenhäuser müssen nicht evakuiert werden. Stattdessen werden die Patienten innerhalb des Gebäudes in tiefer gelegene Geschosse verlegt. Sogar die Kellerräume werden genutzt. Die Kinderklinik verfrachtete ihre kleinen Patienten auf die Gänge. Hauptsache weg von den Scheiben.

Kurz vor Mitternacht war die Bombe dann entschärft. Die 50 Sandsäcke mit einem Fassungsvermögen von je einer Tonne Sand waren da längst befüllt und die Wohnungen evakuiert.

Nach und nach schicken Feuerwehr und THW, Rettungsdienste und die Polizei ihre Kräfte - es waren Hunderte im Einsatz - in den Feierabend. Wer im Notlager in der Westfalenhalle Unterschlupf gefunden hatte, durfte wieder zurück in seine Wohnung.

Als die Dunkelheit schon lange über Dortmund lag, verstummte die Melodie des Tages endlich. Die Melodie eines Katastrophenfilms – mit glücklichem Ausgang.

Die Chronik der Nacht>