Dortmund. Menschenhändler nutzen das Asylrecht, damit in Europa zur Prostitution gezwungene schwangere Frauen in Dortmund ein Baby zur Welt bringen. Sie setzen ungewöhnliche Drohungen ein. Nach der Geburt sollen die Körper der jungen Mütter “weiterverwertet“ werden. Dazu drohen die Menschenhändler den oft aus Nigeria stammenden Frauen mit bösen Voodoo-Zaubern.
"Isom" heißt das am 1. April 2014 aktivierte Projekt, mit dem die Expertinnen der Dortmunder Mitternachtsmission in den Asylbewerber-Unterkünften die jungen Opfer von Menschenhändlern identifizieren und isolieren wollen, um sie aus den Fängen der Täter und Täterinnen zu befreien. "Isom" steht für "Identifizierung und Schutz von Opfern von Menschen auf dem Asylweg".
Die Arme der Menschenhändler reichen bis in die Asylbewerberheime, in denen die meist zwischen 16 und 30 Jahre alten Opfer vorübergehend leben. "Wir besorgen eine sichere Unterkunft, organisieren soziale Hilfe und vermitteln Integrationskurse", berichtet Heike Müller von der Dortmunder Mitternachtsmission "Mimi" über die "Isom"-Arbeit.
Der Fall Joyce - von Nigeria über Italien nach Dortmund
Joyce (19) ist eine von fast 800 Frauen, die im vergangenen Jahr bei der Mitternachtsmission ("Mimi") an der Dudenstraße in Dortmund strandeten. Schwanger, traumatisiert, verängstigt - so begegnete sie den Mimi-Frauen, die behutsam Fragen stellten.
Zwangsarbeit in einer europäischen Sex-Fabrik
Die 19-Jährige stammt aus einem Dorf in Nigeria, wuchs bitterarm bei der Großmutter auf und erfuhr von einer Nachbarin, dass afrikanische Frauen in Europa arbeiten und in einer Fabrik gutes Geld verdienen könnten. Dass Joyce in einer Sex-Fabrik arbeiten muss, um die Transportkosten von Nigeria bis in ein italienisches Bordell abzuarbeiten, erfährt sie erst, als es zu spät ist. Die Menschenhändler und die Zuhälterin, die "Madam", verlangen 60.000 Euro - abzuarbeiten durch Sex. Die Ware: Joyces Körper. Mit einem gefälschten Pass in der Tasche und anderen Mädchen an der Seite sitzt die ahnungslose und zugleich hoffnungsvolle 19-Jährige in einem Flugzeug nach Italien. Die "Madam" nimmt sie in einer Wohnung auf - schon einen Tag später muss Joyce in einem "Club" anschaffen, um die 60 000 Euro abzuzahlen. "Madam" droht der jungen widerspenstigen Frau: Falls sie den Sex mit fremden Männern verweigere, müsse die Großmutter in Nigeria sterben. Auch mit Voodoo-Zauber halten die Täter die jungen Frauen in Schach.
Ein Mädchen lernt die Jungfrau an
Joyce fügt sich. Ein anderes Mädchen lernt die Jungfrau an. Ein regelmäßig erscheinender Kunde schwängert Joyce - er gibt an, aus Dortmund zu kommen. In einem günstigen Augenblick entkommt die 19-Jährige unter großer Angst vor Repressalien dem Club in Italien. Ihr Ziel: Dortmund - der Wohnort des mutmaßlichen Vaters ihres Kindes, das im Mutterleib heranwächst. Am Dortmunder Hauptbahnhof erhält sie die Adresse der Mitternachtsmission. Den Vater trifft sie nie wieder.
Wandel von Osteuropa nach Afrika
Noch vor drei Jahren betreuten die Spezialistinnen der "Mimi" überwiegend Frauen aus Osteuropa, die auf den Straßenstrich geschickt wurden. Nach dem politisch bewirkten Aus für den Straßenstrich drängten zunehmend afrikanische Menschenhändler auf den "Markt". "Immer wieder fällt Nigeria als die Heimat der Opfer auf", berichtet die Leiterin der Mitternachtsmission, Andrea Hitzke, über den Alltag im "Isom"-Projekt, das Ende März 2015 nach nur einjähriger Arbeit ausläuft.
Unter den 197 Menschenhandels-Opfern aus dem Jahr 2013 waren auch Mütter mit insgesamt 129 Kindern. "Wir stoßen an unsere Grenzen", sagt Andrea Hitzke mit Blick auf die Zahlen. Allein in der ersten Jahreshälfte 2014 betreute die "Mimi" 140 Opfer von Menschenhändlern. Darunter 92 kleine Kinder - und auffällig viele Frauen aus Nigeria. Andere Frauen stammen aus Gambia, dem Senegal und dem Kongo, Sudan und Algerien. Die Menschenhändler sind so international wie ihre Opfer. Auch Deutsche sichern sich ihre Geschäftsanteile. Polizei und Justiz können ihnen nur selten das Handwerk legen. Denn die Opfer schweigen. Aus Angst. Selbst wenn die schwangeren Frauen zwecks Geburt eines Kindes in der Asylbewerber-Erstaufnahme in Hacheney abgegeben worden sind, halten die Menschenhändler den Kontakt zu den Opfern.
Und sie verfolgen sie bis in die Unterkünfte außerhalb Dortmunds. "Die Opfer werden massiv unter Druck gesetzt. Dahinter stehen gut organisierte Strukturen in ganz Europa. Wir wissen, dass den Drohungen auch Taten folgen", sagt Projektleiterin Heike Müller über die Gefahr.
Für die Heimat gilt ein Einreiseverbot
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) reagiert sensibel auf diese Fälle. Allerdings müssen die einen Asylantrag stellenden Frauen glaubwürdig nachweisen, dass sie von Menschenhändlern zur Prostitution gezwungen worden sind. "Diese mehrmals geführten Gespräche sind nicht einfach", berichtet die Leiterin der Mitternachtsmission, Andrea Hitzke.
Läuft alles gut, stellt das BAMF die jungen Frauen unter "Substituierungsschutz". Dann erhalten sie für drei Jahre einen speziellen Flüchtlingspass, mit dem sie sich innerhalb Europas bewegen dürfen. Für die Heimat besteht ein Einreiseverbot. In dieser Zeit müssen bei Minderjährigen die Jugendämter für eine sichere Bleibe sorgen. Die Mitternachtsmission organisiert den Übergang von der Zwangsprostitution zur freiwilligen Integration.
Das Projekt "Isom" verlängern
Andrea Hitzke: "Ich bin immer wieder überrascht, wie gut sich die Frauen in den nur zwei bis drei Jahren entwickelt haben. Sie sprechen gut Deutsch, erziehen ihre Kinder gut und führen in einigen Fällen als Krankenschwestern und Altenpflegerinnen ein selbstständiges Leben." Während andere Frauen auf dem Weg nach Deutschland sind. Jung. Schwanger. Bedroht.
Die Mitternachtsmission will das Projekt "Identifizierung und Schutz von Opfern von Menschenhandel auf dem Asylweg" über März 2015 hinaus verlängern. Denn, so Andrea Hitzke, "Diese Entwicklung im Menschenhandel hält an."