Bochum.

Die Gußstahlstraße liegt ziemlich zentral in Bochum, zwischen Rathaus und Westpark. In einem Bogen verläuft sie vom Westring aus unter einer Bahnbrücke durch eine Senke, bevor sie sich wieder anhebt, am Bochumer Verein einen Knick nach links macht und ein Stück weiter in die Alleestraße mündet.

Trotzdem eilt ihr der Ruf einer Außenseiterin voraus. „Wenn man irgendwo seine Adresse angeben muss, wird man blöd angeguckt“, sagt Werner Mal-zahn, „aber das macht mir nichts.“ Malzahn hat in der Gußstahlstraße die meisten seiner 45 Lebensjahre verbracht. Er ist einer, der nichts dagegen hat, in der Öffentlichkeit über die Straße zu sprechen. „Das ist mein zu Hause“, sagt er.

Zielstrebig unterwegs

Die meisten Passanten, die hier am frühen Abend langgehen, braucht man dagegen nicht nach einer Auskunft zu fragen. Sie sind nicht von hier und werden auch nicht lange bleiben, hier im Bochumer Rotlicht-Viertel. Viele sind zielstrebig auf dem Weg in die kleine Seitenstraße Im Winkel, die von der Gußstahlstraße abgeht (1), und wo der Blick leicht bekleidete Frauen einfängt, die sich aus offenen Fenstern lehnen.

Von den Männern, die in den Bars oder am Taxistand am Rande der Gußstahlstraße arbeiten, wohnen die meisten ebenfalls nicht hier. Auch von ihrem Arbeitsalltag wollen sie ungern berichten. Zumindest nicht mit Namen, geschweige denn mit Foto. „Der Chef ist nicht da“, heißt es einstimmig. Ohne Autorisierung will hier niemand etwas erzählen. Ist eben vielleicht doch keine Straße wie jede andere.

„Gar nicht so viel mitbekommen“

„Man kann schon sagen, dass das hier eine kleine Parallelwelt ist“, sagt Werner Malzahn, der in der Gußstahlstraße aufwuchs, als hier noch viele Familien in frei stehenden Wohnhäusern lebten und die Kinder zusammen auf der Straße spielten. „Früher war das alles noch nicht so locker, da hat man gar nicht so viel mitbekommen. Da liefen die Frauen noch nicht im Bademantel über die Straße“, sagt Malzahn, für den sich das Geschäft, das der Gußstahlstraße das Synonym „Eierberg“ einbrachte, alltäglich vor seiner Haustür abspielt. Er betont: „Viele haben ein falsches Bild von der Gußstahlstraße. Der Puff ist ja gar nicht direkt hier, sondern in der Seitenstraße. Kneipen, Tabledance und Casinos gibt es ja auch in der Innenstadt.“ Dennoch machen die Namen der anliegenden Bars wie „Rote Laterne“ oder „Ritze“ (2) keinen Hehl daraus, für welche Parallelwelt die Gußstahlstraße als Eingangstor fungiert.

„Man kennt sich"

Bereits in den 60er Jahren betrieb Malzahns Mutter in der Gußstahlstraße zunächst einen Frisörsalon, später eine Parfümerie. In den 70ern eröffneten seine Eltern ein Lebensmittelgeschäft, das Werner Malzahn Mitte der 90er Jahre übernahm. Seit rund zehn Jahren wohnt er wieder in der Gußstahlstraße, gleich hinter seinem Laden (3), und hat zu den anderen Gewerbetreibenden in seinem Umfeld ein offenes Verhältnis. „Man kennt sich. Teilweise führt man auch private oder freundschaftliche Gespräche“, sagt Malzahn.

Vor allem mit den Frauen, den Huren, die in der direkten Umgebung arbeiten, hat er oft zu tun. „90 Prozent meiner Kunden sind die Frauen von hier“, schätzt Malzahn. Sie kaufen bei ihm ein oder nutzen den Geldtransfer, den er seit einiger Zeit anbietet, um einen Teil ihres Verdienstes zu ihren Familien, meist nach Südosteuropa, zu schicken.

Die Eisenbahnbrück der Glückauf-Bahn über der Gußstahlstraße.
Die Eisenbahnbrück der Glückauf-Bahn über der Gußstahlstraße. © WAZ FotoPool | WAZ FotoPool

Über das Kopfsteinpflaster vor Malzahns Laden rollt derweil gemächlich ein Streifenwagen der Polizei. Auf den Bürgersteigen zu beiden Seiten schlendern in unregelmäßigen Abständen Männer jeden Alters entlang. Auch Frauen mit Kinderwagen oder vollen Einkaufstaschen gehen vorbei, bevor am Abend grelle Leuchtröhren an einer Hauswand die Silhouette einer überlebensgroßen Frau schon von Weitem erkennen lassen.

Gußstahlfabrik prägte das Werden der Stadt

Die Gußstahlstraße hieß bis 1929 Maarbürcker Straße, ihre Entstehung hängt eng mit der Geschichte des Bochumer Vereins und dem damit verbundenen ehemaligen „Bahnhof Gußstahl“ zusammen.

Die 1843 von Jacob Meyer gegründeten Gußstahlschmelze wurde 1854 zum Bochumer Verein (B.V.) für Bergbau und Gußstahlproduktion umgewandelt und zählte vor dem Krieg als Teil der Vereinigten Stahlwerke zu den größten integrierten Hüttenwerken in Europa. Der B.V. hat die Entwicklung und das Werden Bochums entscheidend beeinflusste. Die Werksanlagen im Bochumer Westen waren im Krieg stark zerstört, aber schnell wieder aufgebaut worden. Am 1. Januar 1963 wurde der B.V. Bestandteil des Krupp-Konzerns, Ende 1965 arbeiteten inklusive der Tochterunternehmen 20 319 Menschen für das Unternehmen. Nach dem Aus für die Hochöfen 1968 wurde das Werk abschnittsweise stillgelegt.

Außer dem Areal der Bochumer Verein Verkehrstechnik GmbH im östlichen Teil des Geländes jenseits der Gußstahlstraße wird heute nur noch der 1936 errichtete Hallenkomplex der alten Mechanischen Werkstatt I, der als „Mewes-Halle“ unter Denkmalschutz steht, als Ersatzteillager industriell genutzt.