Duisburg. 2022 ging das Nahverkehrsunternehmen in die Insolvenz. Dokumente belegen: Die Pleite kostete 527 Millionen. Insider sagen: Es gab bessere Lösungen.

Die Erleichterung ist spürbar an diesem Mittwochvormittag in der Werkhalle, wo an der Wand ein großes „Abellio“-Plakat von der Einweihung im Jahr 2017 kündet. Jetzt aber feiert hier der Bahnbetreiber Vias mit VRR und NWL (der Aufgabenträger für Westfalen) einen Vertragsabschluss: Bis mindestens Ende 2036 fährt das Unternehmen aus Düren den RE19 (Düsseldorf-Duisburg-Wesel-Arnheim/Bocholt) sowie den RB35 (Krefeld-Oberhausen-Gelsenkirchen).

Feier in der alten Abellio-Werkstatt, die jetzt dem VRR gehört: Joachim Künzel, NWL-Geschäftsführer, Oliver Wittke, VRR-Vorstandssprecher, Thomas Eßer und Franz Reh beide VIAS-Geschäftsführer, vereinbarten am Mittwoch, 19. Februar 2025, dass Vias bis Ende 2036 die Züge im Niederrhein-Netz (RE 19/RB35) fahren wird.
Feier in der alten Abellio-Werkstatt, die jetzt dem VRR gehört: Joachim Künzel, NWL-Geschäftsführer, Oliver Wittke, VRR-Vorstandssprecher, Thomas Eßer und Franz Reh beide VIAS-Geschäftsführer, vereinbarten am Mittwoch, 19. Februar 2025, dass Vias bis Ende 2036 die Züge im Niederrhein-Netz (RE 19/RB35) fahren wird. © VRR | VRR

Eine glückliche Entwicklung, so betonen an diesem Tag alle. Knall auf Fall mit nur sechs Wochen Vorbereitungszeit hatte der zuvor recht kleine Bahnbetreiber aus Düren im Januar 2022 den Betrieb übernommen. Mittlerweile läuft es, jedenfalls weitgehend.

Doch der holprige Start kam nicht von ungefähr. Denn Abellio, mit langjährigen Verträgen ausgestatteter Betreiber der Züge, war in die Insolvenz gegangen. Gelegenheit zur Aufarbeitung des Wie und Warum hätte ein Verfahren vor dem Landgericht Essen bieten können. Doch der Termin Ende Januar wurde kurzfristig abgesagt.

Schadenersatzforderungen in dreistelliger Millionenhöhe

642 Millionen Euro Schadenersatz hatte der Insolvenzverwalter des Nahverkehrsunternehmens Abellio zunächst gefordert von den Aufgabenträgern. Diese (Verkehrsverbund Rhein-Sieg, VRR, NWL) stellten Gegenforderungen. Insgesamt duellierten sich die Anwälte, so berichten Insider, mit Forderungen fast bis an die Milliardengrenze. Am Ende war man sich stiekum einig, kurz bevor man sich öffentlich hätte streiten müssen. „Der erzielte Vergleich unterliegt einer Vertraulichkeitsvereinbarung, an die wir uns halten“, heißt es vom VRR. Strich drunter, Mantel des Schweigens drüber. Ist besser so. Denn ob die Abellio-Pleite überhaupt sein musste, ist umstritten.

Blick zurück ins Jahr 2022: Im Nahverkehr an Rhein und Ruhr brennt es lichterloh. Schon seit 2020 klagen Nahverkehrsunternehmen wie Eurobahn, Abellio und NationalExpress, dass ihnen die Kosten davonlaufen. Sie haben Verträge, in denen steht, wie viel sie für ihre Leistungen auf der Schiene bekommen. Doch die „wasserdichten Verträge“ einer Düsseldorfer Anwaltskanzlei wälzen alle Risiken auf die Bahnfirmen ab.

Und die nehmen drastisch zu: Die Gewerkschaften haben mehr Freizeit und Geld für ihre Mitarbeiter ausgehandelt als erwartet, die Organisation der Arbeit wird kniffliger, nicht jeder Mehraufwand wird vergütet. Immer mehr Bauprojekte und verschleppte Sanierungen verwandeln das Bahnnetz in NRW in einen Hindernisparcours für die Zuglinien. Kaum ein Fahrplan lässt sich so fahren, wie die Unternehmen ihn kalkuliert haben. Der teure Ersatzverkehr mit Bussen muss auf eigene Rechnung organisiert werden.

Gut gelaunter Auftakt: So fing im Dezember 2007 die Abellio-Geschichte an. Das in Essen gegründete Unternehmen ging erfolgreich gegen den Bahnmonopolisten DB vor. Für den damaligen Essener Oberbürgermeister Wolfgang Reiniger (2.v.l) und Wolfgang Meyer, Geschäftsführer des jungen Unternehmens (3.v.l.), ein Grund zur Feier, nicht nur, weil der Zug „Essen“ hieß und vom Weihnachtsmann gefahren wurde.
Gut gelaunter Auftakt: So fing im Dezember 2007 die Abellio-Geschichte an. Das in Essen gegründete Unternehmen ging erfolgreich gegen den Bahnmonopolisten DB vor. Für den damaligen Essener Oberbürgermeister Wolfgang Reiniger (2.v.l) und Wolfgang Meyer, Geschäftsführer des jungen Unternehmens (3.v.l.), ein Grund zur Feier, nicht nur, weil der Zug „Essen“ hieß und vom Weihnachtsmann gefahren wurde. © WAZ | eingereichtes fremdbild essen

Zur Wahrheit gehört auch: Abellio, seit 2008 im Besitz der Niederländischen Staatsbahn, ist offenbar mit sehr sportlich kalkulierten Markteintrittspreisen gestartet. Hinzu kam Missmanagement und personelle Überforderung bei Übernahme der S-Bahn Rhein-Ruhr und zweier RRX-Linien Ende 2021. Abellio schafft es nicht – in Pandemiezeiten nachvollziehbar – schnell genug Personal auszubilden. Fahrten fallen aus, Abellio wird mit Strafzahlungen und Abmahnungen überhäuft.

Schon seit Oktober 2020 haben die niederländischen Eigner keine Freude mehr an Abellio: Jährliche zweistelligen Millionenverluste pro Jahr in Deutschland sind nicht tragbar. Sie wollen aussteigen. VRR und Co. pochen auf die Einhaltung der Verträge. Der damalige VRR-Geschäftsführer Ronald Lünser sagt 2020 in der NRZ: „Wenn es eine rechtliche Legitimation zur Nachbesserung der Verträge gibt, müssen wir ebenfalls klären, wie und mit welchem Geld wir das tun wollen.“

Wäre es auch für 270 Millionen weitergegangen?

Ein Angebot lag auf dem Tisch: Für 270 Millionen Euro zusätzlich werde das Unternehmen seine lang laufenden Verkehrsverträge erfüllen, so Abellio. Die Kanzlei mit den „wasserdichten Verkehrsverträgen“ blieb hart und der VRR und seine Gremien folgten mit Mehrheit dieser Linie: Eine Nachbesserung verstoße gegen EU-Wettbewerbsrecht.

Abellio lebt – in Niedersachsen, Hessen, Sachsen-Anhalt und Thüringen: Dort fährt eine Tochter des Unternehmens bis heute und beweist: Anders als in NRW dargestellt, gab es wohl doch eine Alternative zur Insolvenz.
Abellio lebt – in Niedersachsen, Hessen, Sachsen-Anhalt und Thüringen: Dort fährt eine Tochter des Unternehmens bis heute und beweist: Anders als in NRW dargestellt, gab es wohl doch eine Alternative zur Insolvenz. © FUNKE Foto Services | Marco Kneise

Heute zeigt sich: Stimmt offenbar so nicht. In Norddeutschland hat ein Unternehmen erfolgreich nachverhandelt, in Sachsen-Anhalt fährt die dortige Abellio-Tochter (mit neuen Eigentümern) noch immer – mit verbesserten Verträgen.

Nochmal Ronald Lünser im Jahre 2020: „Wenn Sie die heutigen Verträge jetzt alle neu ausschreiben, (…) wären das Mehrkosten mindestens von 50 Millionen Euro jährlich.“ Die Verträge liefen bis 2034. Lünsers Schätzung kommt offenbar ziemlich gut hin. Bis heute belaufen sich die Mehrkosten nach Dokumenten, die der NRZ vorliegen, auf knapp 527 Millionen Euro.

Denn nach der Pleite kam es zu Notvergaben. Aufwand und Risiko für die abrupte Übernahme nach der Insolvenz ließen sich Vias, DB Regio  und NationalExpress gut bezahlen. Genauso die kleineren Zugbetreiber, die einsprangen, um den Schienenverkehr überhaupt am Laufen zu halten. 160 Millionen wurden hier fällig.

Neuvergabe kostete mehr als 300 Millionen Euro

Langfristige Neuvergaben wie die jetzt gefeierte kommen mehr als 300 Millionen Euro teurer als es die einstigen Abellio-Verträge vorsahen. Die Werkstatt, in der jetzt die Verträge unterzeichnet wurden, gehörte einst Abellio, jetzt aber dem VRR. Für diese und eine ähnliche in Hagen legte er 23 Millionen Euro hin.

Kosten für Anwälte, Liquiditätslücken und Dienstleister sorgen dafür, dass die Rechnung sich insgesamt auf knapp 527 Millionen beläuft – statt der 270 Millionen, die Abellio gefordert hatte. Selbst wenn der außergerichtliche Vergleich, so ist zu hören, noch einige Millionen zurückbringen sollte, bleibt ein Minus von knapp unter 200 Millionen. Bezahlt wird das aus den sogenannten Regionalisierungsmitteln des Landes. Geld, das an anderer Stelle für mehr Bus und Bahn fehlt.

Offenbar stellt sich zumindest die SPD-Landtagsfraktion ähnliche Fragen: „Mittlerweile muss die Frage gestellt werden, ob die Abellio-Pleite und das anschließende Chaos wirklich alternativlos waren und die Kosten nicht durch die damaligen Entscheidungen erst explodiert sind. In anderen Bundesländern ließen sich Verträge anpassen, warum wurde in NRW damals anders entschieden?“, fragt Gordan Dudas, verkehrspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion. „Wenn die Kosten für Notvergaben und Verträge mit über einer halben Milliarde Euro aus dem Ruder gelaufen sind, zeigt das doch, dass man sich die damaligen Verträge nochmal genau anschauen muss. Schließlich wurde hier massiv Steuergeld eingesetzt, das an anderer Stelle fehlt.“

Ein Zug der Eurobahn im Hauptbahnhof Düsseldorf. Das kriselnde Unternehmen wurde jetzt vom Verkehrsverband Westfalen übernommen: Vergesellschaftung statt drohender Pleite.
Ein Zug der Eurobahn im Hauptbahnhof Düsseldorf. Das kriselnde Unternehmen wurde jetzt vom Verkehrsverband Westfalen übernommen: Vergesellschaftung statt drohender Pleite. © dpa | Federico Gambarini

Belege dafür, dass es anders hätte gehen können, gibt es mehrere: Just vor einigen Wochen wurde die ebenfalls von der Insolvenz bedrohte Eurobahn vergesellschaftet. Für die Verluste steht der NWL und damit die Kommunen in Westfalen gerade. Jedenfalls für zwei Jahre. Dann will man das Unternehmen so flott gemacht haben, dass sich neue Eigentümer finden.

Der VRR hat sich für den Fall einer neuerlichen Insolvenz abgesichert: Er hat drei Viertel der Regiobahn Betriebsgesellschaft Mettmann übernommen. Einerseits, um das Unternehmen zu stabilisieren. Andererseits, um im Falle eines Falles nicht nur Aufgabenträger zu sein, sondern notfalls die Züge selbst fahren zu können, mit einer Art Eigenbetrieb. Hat man nicht ganz so groß gefeiert wie jetzt in Duisburg. Dort betonte VRR-Chef Oliver Wittke: „Ein neuer Verkehrsvertrag zeigt, dass der Wettbewerb funktioniert!“ Dass es für Steuerzahler teuer werden kann, wenn im Wettbewerb ein Unternehmen auf der Strecke bleibt, sagt er nicht.