Siegen. Die blutige Tat in einem Bus beschäftigt in Siegen Bürger und Politik. Wie trotzdem Stadtfest gefeiert wird - und Solingen mit schwebt.
Sie haben ihrem obersten Dienstherren extra einen Kuchen besorgt, der steht jetzt auf dem Tisch im Konferenzraum, mit dem Gruß: „Happy Birthday“. Aber Herbert Reul, der an diesem Samstag 72 geworden ist, hat dafür zunächst keine Zeit.
Wieder mal muss der NRW-Innenminister sich zu einer Messerattacke äußern. Vor einer Woche war er am Tatort in Solingen, diesmal ist er nach Siegen geeilt. Zwei blutige Vorfälle, die wohl kaum vergleichbar sind, aber dennoch hat die Tat in Siegen „schlimmste Erinnerungen“ geweckt, wie es NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst ausdrückt.
Sein Partei- und Kabinettskollege Reul nimmt am Samstagmittag, an seinem Geburtstag, zunächst an einem Gottesdienst auf dem Schlossplatz in Siegen teil, mit dem der zweite Tag des dortigen Stadtfestes eröffnet wird. Danach lässt sich der CDU-Politiker in der Kreispolizeibehörde Siegen-Wittgenstein von den Ermittlern über den Vorfall vom Freitag informieren, bei dem eine 32-jährige Frau sechs Menschen in einem Bus mit einem Messer teils lebensbedrohlich verletzt haben soll.
Zu Beginn der Runde sagt Reul den Ermittlern noch, dass er nicht lange stören und sich „auf das Nötigste beschränken“ wolle. „Sie haben ja alle viel zu tun“, meint der Minister. Fast eine Stunde dauert es dann doch, bis Reul wieder vor die Presse tritt und versucht, Antworten zu geben auf die im Land zunehmende Zahl von Messerattacken und das beeinträchtigte Sicherheitsgefühl.
Es gelingt ihm nur zum Teil.
Eine Woche nach dem Terroranschlag von Solingen wecken die Ereignisse in #Siegen schlimmste Erinnerungen. Junge Menschen werden unvermittelt zu Opfern. Ich wünsche ihnen schnelle Genesung & danke den mutigen Fahrgästen, die durch ihr Einschreiten Schlimmeres verhindert haben.
— Hendrik Wüst (@HendrikWuest) August 31, 2024
Verbot war offenbar wirkungslos
Als die Messerattacke in Siegen geschieht, liegt der mutmaßliche Terroranschlag von Solingen durch einen syrischen Asylbewerber genau eine Woche zurück. Der hatte drei Todesopfer gefordert – und die Debatte über Sicherheit, Zuwanderung und Abschiebungen massiv verschärft. Dann passierte Siegen.
In beiden Fällen war das Tatwerkzeug offensichtlich ein Messer. Ansonsten aber scheinen die beiden blutigen Vorfälle nach den bisher bekannten Ermittlungsergebnissen wenig gemein zu haben. Den Behörden ist es am Tag nach der Tat von Siegen erkennbar ein Anliegen, auf diese und andere, vom Solingen-Fall abweichende Umstände hinzuweisen. Siegen soll kein Solingen 2 werden.
„Das, was hier in Siegen passiert ist, hat nichts mit Solingen zu tun hat.“
Als Täterin gilt im Fall Siegen kein junger Mann aus dem Ausland, sondern eine deutsche Frau – ohne Migrationshintergrund, wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Politiker betonen, um Spekulationen zu kontern. Auch gebe es keine Hinweise auf ein politisches oder religiöses Tatmotiv. Stattdessen soll die Tatverdächtige, die inzwischen in Untersuchungshaft sitzt, psychisch krank sein.
„Das, was hier in Siegen passiert ist, hat nichts mit Solingen zu tun hat. Null. Es waren beide Male Messer, aber es ist ein Riesenunterschied, ob da ein Terrorist unterwegs ist oder eine deutsche Frau, die psychische Probleme hat, wahllos auf Menschen einsticht. Deshalb wird die Polizei auch ganz anders arbeiten müssen. Wer soll ahnen, dass irgendjemand in den Bus einsteigt, der nicht ganz gesund ist und in seiner Tasche Messer, Schraubenzieher und anderes dabei hat“, sagt Reul.
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Reul hat genug von pauschalen Antworten
Was der NRW-Innenminister vorträgt, ist zutreffend, doch trotz – oder wegen – der Unterschiede zwischen den beiden Fällen verschärft auch die Tat von Siegen die seit Monaten anhaltende Diskussion um die Häufung von Messerattacken und deren Auswirkungen auf das Sicherheitsempfinden der Bürger. Das weiß auch Reul, der am Mittwoch einen zehnteiligen „Werkzeugkasten“ gegen die zunehmende Zahl von Straftaten mit Messern vorgestellt hatte (unter anderem Entzug des Führerscheins, mehr Waffenverbotszonen und Waffentrageverbote).
Am Samstag in Siegen nennt er den jüngsten Vorfall „einfach fürchterlich“, wirbt um Sachlichkeit, kritisiert seine eigene Zunft wegen „diesem aufgeregten direkten Reagieren und diesem Wir-haben-die-Lösung-für-alles“ nach derlei Ereignissen. Das müsse „endlich“ aufhören.
Reul erklärt, dass er sich „immer mehr gegen diese einfachen, pauschalen Antworten“ wehre, auch wenn er wisse, dass es unbefriedigend sei, weil die Leute sagen würden: „‘Reul, mach was, dass das nicht mehr passiert‘.“ So einfach aber sei das nun mal nicht.
Einführung von Taschenkontrollen wird geprüft
Der 72-Jährige weiß allerdings auch, dass mit jeder Messerattacke, so unterschiedlich die Fälle auch gelagert sein mögen, der Druck steigt – auch auf den Innenminister. Auch wenn er sich gegen schnelle, pauschale Lösungen wehrt, will er natürlich nicht taten- und ratlos wirken. Also kündigt er an, prüfen zu lassen, ob Taschenkontrollen bei großen Volksfesten rechtlich zulässig sind (und, falls ja, wie sie umsetzbar wären).
Nur: Taschenkontrollen am Eingang zu Volksfesten (wenn sie bei einer Veranstaltung wie beispielsweise einem Stadtfest, das nicht in einem geschlossenen Areal stattfindet, überhaupt machbar wären) hätten den Fall Siegen nicht verhindert. Die Tat fand in einem Bus auf der Anfahrt in die Innenstadt statt. Auch (bereits geltende) Messerverbote haben in diesem Fall wohl nichts gebracht. Laut Landrat Andreas Müller (SPD) führte die Tatverdächtige ein Einhandmesser mit – das bereits nach aktueller Gesetzeslage verboten sei. Dazu habe die 32-Jährige in einem Jutesack weitere Messer, Müller sprach von Küchenmessern (oder Ähnlichem), sowie einen Schraubenzieher mitgeführt. Es sind Alltagsgegenstände, die harmlos oder tödlich sein können. Je nachdem, wessen Hand sie führt.
Ähnlich wie Reul spricht daher auch Müller an diesem Tag aus, dass die Sicherheitsbehörden in solchen Fällen ein Stück weit machtlos seien. Derartige Messerattacken, sagt der Landrat, scheinen „ein Risiko zu sein, das wir nicht ausschließen können“.
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Reul appelliert an Gesellschaft
Was also tun? Auf dem Stadtfest in Siegen prangt an einer der Musikbühnen ein Werbebanner: „Bau deine Zukunft.“ Das sagt sich so einfach.
Reuls Antwort auf die Probleme umfasst zunächst einen Exkurs über gesellschaftliche Entwicklungen, eine höhere Gewaltbereitschaft und eine niedrigere Frustrationstoleranz, die Gefahren des Internets und von Social Media, insbesondere für Jüngere. „Die Polizei allein“, sagt der oberste Dienstherr der Polizei im Lande dann, „wird es nicht richten.“
Also appelliert der NRW-Innenminister an Gesellschaft und Bürger, zusammenzuhalten, aufeinander aufzupassen, wachsam zu sein; in dem Kontext lobt er jene couragierten Bus-Insassen, die am Freitag die mutmaßliche Täterin davon abgehalten haben sollen, weitere Menschenleben zu gefährden: „Dass Frauen und Männer gestern zugegriffen und das Schlimmste verhindert haben, viele Mensch vor Schaden bewahrt haben, das ist doch eine Riesengeschichte. Wenn ich mitkriege, dass das Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund waren, das kann ja auch ein bisschen stolz machen und macht deutlich, es ist nicht so einfach, wie wir manchmal die Probleme diskutieren. Weil es so kompliziert ist, braucht es mehr Zeit und Ruhe.“
Reul spricht gut zehn Minuten vor den Medienvertretern. Danach verabschiedet er sich aus Siegen, wo das Stadtfest trotz des schockierenden Vorfalls vom Freitag weitergeht. Es ist ein Jubiläums-Fest zum 800. Stadtgeburtstag. Wie die Stimmung ist? Darauf gibt es unterschiedliche Antworten, aber die, die gekommen sind, die lassen sich offensichtlich nicht durch die Vorfälle vom Besuch des Stadtfestes abhalten. Trotz mancher Zweifel.
„Es ist wichtig, sich gerade in solchen Zeiten nicht die Freiheit nehmen zu lassen, auf das Stadtfest zu gehen“
Besucher bekennt: Vorfälle „machen was mit einem“
Am Samstagnachmittag hat sich die Innenstadt mit Menschen gefüllt, an den Bühnen an der Siegbrücke oder an Kochs Ecke spielen Musikbands. Polizisten patrouillieren in Vierergruppen durch die Innenstadt, dazu sind Security-Mitarbeiter im Einsatz.
Bastian und Malte, beide 33 Jahre alt, leben in Köln, sind zum Stadtfest in ihrer Heimatstadt angereist. Sie finden den Vorfall vom Freitagabend „schockierend“, vor allem für die Opfer und deren Angehörige. „Es ist eine Tragödie, dass wieder Leute abgestochen wurden“, erklärt Bastian, der aber auch sagt, dass derzeit sehr viel über Messerattacken berichtet und das Thema teils „aufgebauscht“ werde. Vielleicht ermutige das Trittbrettfahrer. Die beiden jungen Männer wollen sich trotz der Vorkommnisse den Spaß nicht verderben lassen. „Es ist wichtig, sich gerade in solchen Zeiten nicht die Freiheit nehmen zu lassen, auf das Stadtfest zu gehen“, sagen sie. 100-prozentige Sicherheit gebe es nicht, sagt Malte, „das muss man akzeptieren“.
Stefan Garbe ist mit seiner Frau und Freunden unterwegs. Nach dem Vorfall vom Freitag hätten sie „lange überlegt“, ob sie zum Stadtfest gehen. Doch wären sie zu Hause geblieben, „dann würde man denen, die ausrasten, die Bühne überlassen“, sagt der 74-Jährige. Er bekennt, dass die Messerattacken der vergangenen Tage und Wochen „was mit einem machen“, etwas auslösen. Auch weiß er, dass es keine 100-prozentige Sicherheit gibt. „Aber wir wollen uns nicht einschränken lassen“, sagt Stefan Garbe, während eine Freundin versichert: „Ich habe keine Angst.“
„Verbote würden gar nix bringen. Härtere Strafen schon.“
„Alleine mit meinen Kindern ist mir das zu unsicher hier“
Ira, 40, aus Burbach, flaniert mit Tochter (17) und Sohn (14) über das Stadtfest. „Man hat schon ein komisches Gefühl“, sagt die Mutter. Zwar seien Polizei und Sicherheitsdienst präsent, aber die Ereignisse der vergangenen Tage und Wochen haben sie verunsichert. In Siegen gebe es jede Woche irgendeinen Vorfall. Bevor es heute dunkel werde, wollen sie das Stadtfest verlassen und nach Hause fahren. „Nachher sind hier die Besoffenen“, sagt Ira, „alleine mit meinen Kindern ist mir das zu unsicher hier“.
Sie findet, dass Verbote – etwa von weiteren Messern – oder Taschenkontrollen nichts bringen. Stattdessen müssten „härtere Strafen“ her. „Die“, sagt Ira, „fehlen.“