Mülheim. Ein modernes Liebesdrama hatte im Theater an der Ruhr in Mülheim Premiere: „Woyzeck“-Inszenierung von Glossy Pain überschreibt Büchner geschickt.

Eine Mädchen-WG: Ikea-Möbel stehen in der Wohnküche, es wird gemeinsam gekocht, gequatscht, Fernsehen geschaut. Im Regal stapeln sich Bücher, die sich mit Liebe, Hass und Geschlechterrollen befassen: „Frauen schulden dir gar nichts“, „Men who hate woman“. Marie und Margret sind beste Freundinnen, die immer wieder Erfahrungen mit „toxischer Männlichkeit“ machen. Mit Typen, die Frauen ungehemmt belästigen (sehr lebendig und charismatisch Amanda Babaei Vieira und Riah Knight).

Der „Woyzeck“, der jetzt im Theater an der Ruhr Premiere hatte, ist eine Fassung des Theaterkollektivs Glossy Pain aus Berlin. Regisseurin Katharina Stoll und ihr Team haben in ihrer gemeinsam erarbeiteten deutsch-englischen Inszenierung aus dem Klassiker von 1836 ein modernes Drama gemacht, das sich am Leben heutiger junger Menschen orientiert. Es zeigt ihren Alltag und erzählt eine süße Love-Story, die böse endet. Nachbar Franz Woyzeck und Marie verlieben sich, doch die Verzauberung weicht der Bitterkeit.

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Mülheimer Inszenierung schaut auf Opfer statt auf Täter

Einen büchner’schen Büchner bekommt man nicht zu sehen, aber ein Stück Theater, das viele Themen des Autors aufgreift und wichtige Textpassagen aus dem Original geschickt mit selbst verfassten Dialogen verbindet. In vielen kleinen Szenen wird die Handlung jugendgerecht vorangetrieben. Videoeinspielungen fangen glückliche und intime Momente ein. Was ist Liebe? Was erwarten junge Menschen von Beziehungen? Was geschieht, wenn die Vorstellungen dazu auseinandergehen? Der Sound, der das Geschehen zuweilen untermalt, deutet an, dass es in dieser Geschichte nicht gut ausgehen wird.

Welchen Einfluss gesellschaftliche und soziale Einschränkungen auf das Individuum haben können, Büchner zeigt es auf. Abhängigkeiten können die Psyche verändern, der Mensch kann zum Opfer und zum Täter werden. Innerlich zerrissen ist auch dieser moderne Woyzeck, die Wandlung vom schüchternen jungen Mann zum eifersüchtigen Gewalttäter, stellt Joshua Zilinske glaubhaft und facettenreich dar. Glossy Pain schaut aber eher auf das Opfer und „die strukturelle Unterdrückung des weiblichen Geschlechts“. Zum Schluss kritisiert die getötete Marie, dass Frauenmörder auch heute noch von den Gerichten oft wegen Totschlags statt wegen Mordes verurteilt werden.

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Junges Mülheimer Publikum feierte die Premiere

Dieser „Woyzeck“ ist für junge Menschen gedacht. Er übersetzt den nicht immer geliebten Abi-Stoff in ihre „Sprache“. Das kann dazu beitragen, das Fremdeln mit Hochkultur abzubauen. Der Applaus bei der Premiere war riesig. Das Publikum, dass zu 90 Prozent aus Schülern bestand, feierte das Stück.

Infos auf theater-an-der.ruhr.de. Dort ist auch ein Podcast zur Inszenierung zu finden.