Gelsenkirchen-Buer. Wie sieht Buer in 100 Jahren aus? 1922 hat man sich darüber Gedanken gemacht und eine Zukunftsvision entworfen. Das Ergebnis ist spektakulär.
- Ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1922 wagt einen Blick in die Zukunft
- Der Autor stellt sich Buer als Zehn-Millionen-Stadt vor
- Das geschah mit den Nachbarstädten
Marty McFly hatte es einfach: Der Held aus der Kultfilmreihe „Zurück in die Zukunft“ konnte einfach in den zur Zeitmaschine umgebauten Sportwagen der Marke „DeLorean“ steigen, auf 88 Meilen pro Stunde beschleunigen und sich anschauen, wie seine Heimatstadt in 30 Jahren so aussieht. Da es die Zeitmaschine (leider?) nur in Filmen gibt, bleibt Normalsterblichen nur das Mittel der Spekulation, wenn es um den Blick in die Zukunft geht.
Dabei sind ja vor allem die Zukunftsvisionen spannend, die in der Vergangenheit geschrieben wurden und so den Vergleich mit dem tatsächlichen Lauf der Ereignisse erlauben. Eben so eine Zukunftsvision findet sich in einer Sonderausgabe der „Buerschen Zeitung“ aus dem Jahr 1922. Damals wurde die 100.000 Bürgerin der damals noch eigenständigen Stadt Buer geboren, Buer wurde dadurch zur Großstadt. Die Zeitung nahm das zum Anlass, einen Blick in die Zukunft zu wagen und sich vorzustellen, wie Buer denn wohl in 100 Jahren – also im Jahr 2022 – aussehen würde.
Gelsenkirchen, Essen, Dorsten und Co: Alles eingemeindet!
2022: Das ist heute. Wie hat sich BZ-Redakteur Willy Neukirchen denn damals, im Jahr 1922, die Zukunft Buers vorgestellt? In dem Artikel beschreibt Neukirchen, wie er in seinem Grab auf dem Buerschen Hauptfriedhof erwacht und seine Heimatstadt Buer erkundet. Und da hat sich viel getan. Im Jahr 2022 hat Buer die Städte Gelsenkirchen, Horst, Essen, Gladbeck, Recklinghausen und Dorsten eingemeindet und ist zur Zehn-Millionen-Einwohner-Metropole geworden, die Hochstraße ist als Einkaufsstraße verlängert worden und reicht von Dorsten über Buer und Erle bis ins „alte Gelsenkirchen“: Die „Pulsader Deutschlands“ werde diese Straße genannt, heißt es wenig bescheiden.
Das alte Rathausgebäude samt Turm an der Goldbergstraße steht noch, wird aber überragt von den umstehenden Gebäuden: „Hohe Paläste, große Kaufhäuser, Wolkenkratzer, Hotels an beiden Seiten der Straße“, beschreibt Neukirchen. „Hohe Glaspavillons“ fungieren als Haltestellen einer „Untergrundbahn“ und nehmen die „Menschenströme“ auf, die durch die Stadt wogen. Schornsteine gibt es nicht mehr – sämtliche Industrie ist unter die Erde verlegt worden.
Im Opernhaus werden nur Werke von Bueranern gespielt
Dass das Thema Eingemeindung schon im Jahr 1922 ein heikles war, beweist dieser Seitenhieb des Redakteurs: Ein neues Rathaus sei gebaut worden, das alte Rathaus fungiere als „Irrenanstalt“: In ihr befinden sich die „Eingemeindungsfanatiker aus Recklinghausen und Gladbeck.“ Hintergrund: Schon in den 1920er-Jahren wurde über eine mögliche kommunale Neuordnung diskutiert – offenbar stand Neukirchen aufseiten jener Bueraner, die auf keinen Fall von einer der Nachbarstädte „geschluckt“ werden wollten. „In Essen und Gelsenkirchen war man vernünftiger, dort sah man die Überlegenheit Buers vollkommen ein“, schreibt er lokalpatriotisch weiter – dass er damit falschlag, sollte sich schon sechs Jahre später zeigen.
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Zu den weiteren Höhepunkten des futuristischen Buers gehören: ein „riesiges Stadion“, Dachgärten, auf denen Flugzeuge landen, eine neue „deutsche National-Schrift“, die neugeborene Kinder sofort lesen könnten, und, in der Redaktion der Buerschen Zeitung, die „drahtlose, selbstschreibende Telephonie“ – ein Fernschreiber. Außerdem gibt es ein Opernhaus, in dem „nur Schauspiele und Opern von Buerschen Dichtern und Komponisten“ aufgeführt werden, und zu dem die Besucher auch aus Köln, Düsseldorf und Münster kommen. Ein Rundflug über das Ruhrgebiet zeigt große Grünflächen, und, ein weiterer Seitenhieb auf die Nachbarstädte, den Essener Hauptbahnhof, der zu einem „großen Gemeindekaninchenstall“ umgewandelt worden war.
Leerstände statt „Pulsader Deutschlands“
Wenig davon ist Wirklichkeit geworden. Die aus heutiger Sicht betrachtet etwas größenwahnsinnig anmutenden Eingemeindungsfantasien haben sich ins Gegenteil verkehrt: Aus Buer wurde im Jahr 1928 ein Teil der Stadt „Gelsenkirchen-Buer“. Zwei Jahre später strich der Gemeinderat das „-Buer“, und seitdem heißt die Stadt so, wie sie heute heißt – und hat etwa 260.000 Einwohner, keine zehn Millionen. Die Einkaufszone der Hochstraße verläuft von der Hagenstraße bis zum Goldbergplatz und kämpft gegen Leerstände. Die Buersche Zeitung wurde 2006 eingestellt, Flugzeuge landen immer noch nicht auf den Dächern, und statt der „Untergrundbahn“ muss man, wie schon 1922, die Straßenbahn nehmen.
Eines aber ist geblieben: Das Gefühl der Bueranerinnen und Bueraner, dass Buer etwas ganz Besonderes ist – das gab es schon 1922, und das gibt es heute noch.