Gelsenkirchen-Buer. Vor 100 Jahren wurde Buer zur Großstadt: Die 100.000. Einwohnerin wurde geboren. Ein Reporter der „Buerschen Zeitung“ berichtete damals.

Dass Buer seit dem Jahr 1928 „nur“ ein Stadtteil von Gelsenkirchen ist, wurmt viele Bueraner noch heute. Und es sind keineswegs nicht nur die Alten, die den Tagen der Eigenständigkeit hinterhertrauern. Auch jüngere Menschen spielen mehr oder weniger ernsthaft mit dem Gedanken einer Abspaltung vom Süden der Stadt: Die Facebook-Gruppen „Buerxit“ und „Beverly Buer“ lassen grüßen.

Vor 100 Jahren, im Jahr 1922, lag der Zusammenschluss mit Gelsenkirchen und Horst noch sechs Jahre in der Zukunft. Für die Stadt, die stolz den Zusatz „in Westfalen“ trug, schien es immer weiter aufwärts zu gehen. 1911 hatte Buer die Stadtrechte verliehen bekommen, ein Jahr später war man aus dem Kreis Recklinghausen ausgeschieden, um kreisfreie Stadt zu werden. Und nun, 1922, war die magische Grenze erreicht, die die Stadt Buer „groß“ werden ließ: Am 2. Februar wurde die 100.000 Bürgerin geboren – traditionell ist das die Einwohnerzahl, ab der man von einer Großstadt spricht. Ein Anlass, der der „Buerschen Zeitung“ eine eigene Sonderausgabe wert war.

So berichtete die „Buersche Zeitung“ über das Ereignis

Gerda Lamche hieß das Mädchen, dessen Geburt Buer in den erlauchten Kreis der Großstädte hievte. Die kleine Gerda war das elfte Kind des Bergmanns Hermann Lamche und dessen Frau. Die Familie wohnte am Röttgersweg 15 in Hassel, in einem „schmucken Bergmannsheim“, wie der Reporter der Buerschen Zeitung vermerkte. Kurz nach der Geburt von Gerda stattete der Journalist den Lamches einen Besuch ab.

Im heute etwas betulich klingenden Stil der Zeit erzählte der Reporter, wie er die 37-jährige Mutter darüber informiert, dass ihre Tochter ein ganz besonderes Mädchen ist. „Ohne zu wissen, wer ich war, ohne zu ahnen, worum es sich handelt, drückt die Frau herzhaft meine Hand, in reiner, stolzer Mutterfreude. ,Wissen Sie auch, liebe Frau, dass das Kind, die kleine Gerda, der 100.000 Einwohner von Buer ist?’“

5000 Mark schenkte die Stadt Buer der Familie Lamche

Die Mutter wusste es anscheinend nicht: „In inniger Liebe schaut sie dem nichts von seiner Bedeutung ahnenden Kindchen in die blauen Augen und drückt es dann in aufjubelndem Mutterglück an ihre Brust: ,Mein Kind! Mein liebes Kind!’“, schrieb der Reporter etwas schwülstig weiter. Noch größer wurde das Glück der Großfamilie, als der Journalist die Nachricht verkündete, dass mit Geld von der Stadt zu rechnen ist: 5000 Mark sollen die Lamches als Geschenk erhalten – die Freude darüber rührte die Mutter zu Tränen.

5000 Mark waren 1922 sehr viel Geld – wenn die Familie Lamche es nicht schnell in Sachwerte investiert hat, steht allerdings zu befürchten, dass die Freude über das Geschenk nicht allzu lange angehalten haben dürfte. 1923 verlor das Geld in Deutschland rapide an Wert, es kam zur „Hyperinflation“: Irgendwann kostete ein Laib Brot die wahnwitzige Summe von 5 Milliarden Mark.

Das ist aus Gerda Lamche geworden

Und Gerda Lamche? Heimatforscher Egon Kopatz kann ein wenig zur Biografie der „100.000. Bueranerin“ beitragen, seine Mutter war mir Gerda Lamche befreundet. „Sie ist Hassel ihr Leben lang treu geblieben“, berichtet Kopatz, und habe zunächst am Eppmannsweg, später an der Ottostraße gewohnt. „Ende der 1980er- oder Anfang der 1990er-Jahre ist Gerda Lamche dann gestorben.“

Zu dem Zeitpunkt war sie längst Gelsenkirchenerin – die Stadt Buer, der sie durch ihre Geburt zum Großstadtstatus verholfen hatte, hatte im Jahr 1928 ihre Eigenständigkeit verloren.