Gelsenkirchen. „Es ist eine Bereicherung, aber der psychische Druck ist enorm“: Das erleben Gelsenkirchener, die ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben.
Viele Menschen haben sich nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine auch in Gelsenkirchen dazu bereiterklärt, Vertriebene bei sich aufzunehmen oder ganz aktiv bei ihrer Ankunft in Deutschland zu unterstützen. Mit welchen Herausforderungen sind sie konfrontiert? Wie lebt es sich, wenn das Haus plötzlich rappelvoll ist? Und würden sie es noch mal tun, wenn sie wüssten, was sie erwartet? Drei Geschichten, drei Protokolle:
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Theresa Falkenberg hat zwei Ukrainerinnen aufgenommen: „Es ist eine Bereicherung, aber der psychische Druck ist schwierig.“
„Nach Ausbruch des Krieges war für meinen Freund und mich schnell klar, dass wir helfen wollen. Wir haben das Privileg, in einer großen Wohnung mit einem Gästezimmer in der Innenstadt zu leben. Über Ecken sind wir dann auf eine Vermittlerin in Polen gestoßen – und dann ging es ganz schnell. Wir bekamen die Anfrage von zwei Frauen, die nach Deutschland kommen wollten. Montags hatten wir Bescheid bekommen, mittwochs waren sie schon da. Wir wussten nichts über sie, nur, dass es Mutter und Tochter waren. In Dortmund haben wir sie dann am Bahnhof abgeholt, sie kamen über einen Bus, den die Vermittlung organisiert hatte. Die erste Begegnung war relativ distanziert, aber sie sind dann sehr schnell aufgetaut. Sie sprechen Ukrainisch und Russisch, wir nur Deutsch und Englisch – da sind Übersetzungs-Apps Gold wert. Später haben wir erfahren: Die Mutter ist 62, die Tochter 37, beide kommen ursprünglich aus Usbekistan, sind dann aber vor über 30 Jahren nach Charkiw gezogen. Ihr Sohn bzw. Bruder musste im Krieg bleiben.
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Ich würde nicht sagen, dass wir blauäugig an die ganze Sache herangegangen sind, aber mit der Zeit realisiert man, was es wirklich heißt, fremde Menschen aus einem Kriegsgebiet bei sich aufzunehmen. Das Zusammenleben ist nicht problematisch, es ist eine Bereicherung, aber der psychische Druck ist sehr schwierig. Das Leid, was man in den Nachrichten sieht, bekommt plötzlich ein Gesicht. Es ist eine ganz andere Nummer, wenn Menschen vor einem stehen und ihre Geschichte erzählen. In den ersten Tagen konnte ich nicht aufhören zu weinen. Hinzu kommt der finanzielle Aspekt: Man muss sich bewusst machen, dass man plötzlich mehrere Existenzen mit finanziert. Aber wir bereuen all das kein Stück und sind froh, dass wir für diese beiden Menschen in so kurzer Zeit schon so viel erreichen konnten.“
Bei Sergej Kotlovskis Eltern lebten teils zehn Leute auf 100 Quadratmetern: „Über das Leiden im Krieg reden wir nicht viel“
„Ich bin in der Ukraine geboren und kam mit vier Jahren nach Deutschland. Da ist die Hilfsbereitschaft für uns selbstverständlich. Zwischenzeitlich haben vier Personen bei mir und acht bei meinen Eltern gewohnt – teils Verwandte, teils entfernte Bekannte. Ich wohne mittlerweile ländlich in Niedersachsen und habe einen Gästebereich mit eigener Küche. Aber bei meinen Eltern in Gelsenkirchen an der Uechtingstraße wurde es auf 100 Quadratmetern ganz schön eng. Sie sind über 60 Jahre alt und gehen mittlerweile auf dem Zahnfleisch. Schließlich muss man die Menschen nicht nur versorgen, es ist auch das ganze Drumherum – die Amtsgänge, die Wohnungssuche. Über das Leiden im Krieg reden wir nicht viel. Wenn, dann eher über die Waffen oder die Kriegstaktik – vielleicht ist das auch eine Bewältigungsstrategie, mit der Situation umzugehen.
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Emotional nimmt es mich mit, wenn ich an meine Verwandten denke, die noch in der Ukraine sind. Viele sind inzwischen hier, aber meine Cousinen sind dort geblieben. Mittlerweile konnten wir mit viel Glück und über Beziehungen Wohnungen für die Personen in Gelsenkirchen finden, aber sie müssen noch vom Amt bewilligt werden. Der Vermieter hat sich zum Glück dazu bereiterklärt, dass sie trotzdem schon einziehen können. Möbel haben wir teils neu gekauft, teils über Haushaltsauflösungen bekommen. Jetzt geht es um Integrationskurse, Schule, Vereinssport – eben nicht nur ums Überleben, sondern dass die Leute hier auch wirklich leben können.“
Markus Kabuth ist Bezugsperson von drei Familien geworden: „Es fließen viele Tränen. Und das nimmt einen auch selbst mit“
„Viele Leute erklären sich bereit, irgendwie helfen zu wollen, aber wenn man nur abwartet, kommen die Hilfesuchenden nicht von alleine auf einen zu. Ich bin der Meinung, man muss aktiv auf die Menschen zugehen. Deswegen habe ich mich mit meiner Frau in den Stadtgarten vor das Plaza-Hotel gestellt, dort wo viele Menschen ja bis vor Kurzem noch untergebracht waren, habe eine alte Dame angesprochen und gefragt, ob die Kinder, mit denen sie unterwegs war, einen Fußball geschenkt haben möchten. Dann hat sie angefangen zu weinen – und so ist man sich schnell näher gekommen. Über sie sind meine Frau und ich mittlerweile die direkte Bezugsperson von drei Familien geworden.
Natürlich kann so etwas auch komisch wirken, wenn man da fremde Menschen anspricht, man wird teils schräg angeguckt. Das muss einem bewusst sein. Aber es ist ja auch gut, wenn da eine gesunde Skepsis herrscht, manche Leute mögen vielleicht auch ganz andere Interessen verfolgen.
Die Menschen sind sehr gerührt von jeglicher Hilfe, es fließen viele Tränen. Und das nimmt einen auch selbst mit. Das ist emotional eine anstrengende Sache, es zieht viel Kraft und geht unter die Haut, wenn man von den Schicksalen erfährt. Deswegen muss man sich auch selbst schützen, ehrlich mit sich selbst sein und sich fragen: Was kann ich genau leisten? Ich beispielsweise hätte niemanden direkt aufnehmen können, weil ich den ganzen Tag außer Haus bin. Danach brauche ich einen Rückzugsort. Aber den drei Familien zu helfen bei Amtsgängen, bei der Wohnungssuche und bei der Bewältigung des Alltags: Das können wir leisten. Nun konnten wir drei Wohnung für sie finden, helfen beim Umzug und haben die Wohnungen gemeinsam mit 30 Helfern möbliert. Mittlerweile fühle ich mich, als wäre ich ein Teil der Familie – trotz der Sprachbarriere.“