Gelsenkirchen. Marius Elfering hat Gelsenkirchen ein Jahr für eine Radioreportage beobachtet. Und nach Lösungen gesucht, wie die Stadt aus der Dauerkrise kommt.
Ein Jahr lang hat Marius Elfering (28) das Leben in Gelsenkirchen intensiv durch die journalistische Lupe beobachtet. Aber nicht nur um auf die vielen Probleme und fatalen Statistiken zu schauen, die Gelsenkirchen sonst oft zum Gegenstand bundesweiter Berichterstattung machen – sondern vor allem auch, um zu beantworten, wie die Stadt ein Stück von ihrem alten Glanz als Industriestadt zurückgewinnen, wie der vielbesungene Strukturwandel gelingen kann. Entstanden ist die dreiteilige Radio-Reportage „Aufstieg. Abstieg. Aufbruch?“ für den Deutschlandfunk Kultur.
Herr Elfering, was hat Sie am meisten an der „ärmsten Stadt Deutschlands“ beeindruckt?
Marius Elfering: Der Optimismus. Es gibt einen unglaublichen Stolz auf die Traditionen. Oft begegnet ist mir die Haltung, dass Gelsenkirchen oft verzerrt nach außen dargestellt wird. Man hat genug von dem Pessimismus.
Aber steckt dahinter nicht auch eine gewisse Verdrängung?
Die Experten aus der Stadtentwicklung, mit denen ich für die Langzeitreportage gesprochen habe, sprachen von Krisenmüdigkeit. Es ist nicht möglich, die Krise immer und überall im Fokus zu haben, so einen Ausnahmezustand kann man nicht stets aufrechterhalten. Insofern ist es wohl schlichtweg menschlich, dass Probleme wie die Armut und Arbeitslosigkeit nicht immer über allem schweben.
Wie haben Sie Gelsenkirchen selbst erlebt? So wie sie sich die Stadt zunächst vorgestellt hatten?
Wenn man die Straßenzüge das aller erste Mal abläuft, dann sieht man natürlich, dass es viel Leerstand und heruntergekommene Häuser gibt. Das verbindet man dann automatisch mit den Vorurteilen über Gelsenkirchen, von denen auch ich mich zu Beginn nicht ganz freimachen konnte. Aber wenn man ehrlich ist, gibt es diese Straßenzüge auch an vielen anderen Orten, auch bei mir in Köln. Und wenn man dann mehr Zeit in der Stadt verbringt, merkt man erst einmal, wie grün es hier ist, was für schöne Ecken es gibt.
Nur sind die Orte in Gelsenkirchen mehr stigmatisiert?
Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Ich bin mir deswegen auch unsicher, ob die Kampagne um den Hashtag #401GE so förderlich war. Da gibt es natürlich unterschiedliche Meinungen zu, aber ich frage mich, ob man wirklich eher mit dem schlechten Image von Gelsenkirchen kokettieren oder da nicht eher bewusst gegen ankämpfen sollte. Vielleicht erreicht man mit #401GE am Ende genau das Gegenteil: Dass sich die Klischees von Gelsenkirchen verfestigen und die Stigmatisierung bleibt.
Man könnte jetzt sagen: Dann braucht Gelsenkirchen ein ganz neues Image. Aber Oberbürgermeisterin Karin Welge, die sie für die Reportage lange begleitet haben, ist nicht gerade ein Fan davon, der Stadt einen neuen Slogan zu verpassen.
Das ist bei meiner Recherche ein Dauerthema gewesen. Der eine sagt, wir sollen aus der Stadt den Ort der Bits & Bytes machen, die anderen haben eher Wasserstoff im Kopf. Und gleichzeitig hängt die Stadtgesellschaft immer noch sehr an ihren Traditionen fest. Es gibt also viele Vorstellungen – die gegen ein so starkes negatives Etikett wie der „ärmsten Stadt Deutschlands“ ankommen müssten. Insofern verstehe ich, dass es schwerfällt, hier den einen neuen Slogan zu finden. Auffällig gewesen ist aber: Fast jeder, mit dem ich gesprochen habe, war der Meinung, dass es vor allem ein einheitliches Auftreten des Ruhrgebiets braucht. Die Verteilungskämpfe sind hier groß – denken Sie nur mal an das Gerangel um die neue Polizeihochschule. Gleichzeitig wird überall gesagt, dass man mehr zusammen auftreten muss. Wenn man also ein neues, positives Image finden wollte, müsste man das wahrscheinlich auf die Region münzen.
Eines der Probleme in Gelsenkirchen, das in den letzten Jahren viele andere Problemlagen überschattet, sind die Folgen der EU-Südost-Migration. In Ihrer Reihe wird wenig darüber gesprochen. Ist Ihnen das Thema nicht begegnet?
Der Anspruch der Reportage war eine gewisse Übertragbarkeit auf andere Städte. Gelsenkirchen hat bei der Zuwanderung aus EU-Südost eine besondere Situation, die nicht auf viele andere Städte übertragbar ist. Es ging mir darum, Gelsenkirchen als Beispiel einer krisengeplagten Stadt im Strukturwandel aufzuführen. Aus meiner Sicht gibt es vereinfacht gesehen drei Felder, die mit Blick auf vergleichbare Städte bearbeitet werden müssen.
Die wären?
Neben den bereits angesprochenen Punkten des Images und der ausbleibenden Kooperation in der Region sind da natürlich noch die Altschulden. Wenn man sich von Kassenkredit zu Kassenkredit hangelt, dann hat man natürlich nur begrenzte Möglichkeiten, etwas in der Stadt zu gestalten. Beinahe alle Expertinnen und Experten, mit denen ich gesprochen haben, sind sich einig, dass Gelsenkirchen darauf angewiesen ist, dass andere Städte die Augen öffnen und merken: Denen muss man mal unter die Arme greifen. Interessant fand ich, wie deutlich da Karin Welge geworden ist, wenn sie in der Reportage Dinge sagt wie: „Verpennen wir in Deutschland nicht Zukunftschancen, wenn hier 20.000 junge Menschen sich nicht entwickeln können und es im Grunde genommen, in anderen Städten, 100.000 Menschen scheißegal ist?“
„Aufstieg. Abstieg. Aufbruch?“ hatte mit dem Schalke-Aufstieg am Ende quasi das ideale Finale. Wie hätten sie die Reportage beendet, wenn Schalke nicht aufgestiegen wäre?
Zum Glück stand ein Fragezeichen hinter dem „Aufbruch“ in meinem Titel (lacht). Aber ich habe in diesem Jahr auch gemerkt, dass nicht alle den Aufbruchsbegriff immer nur mit dem Fußball verbinden wollen. Mir ist in den Gesprächen auch häufig der Wunsch untergekommen, sich ein bisschen von dem Fußball-Pathos lösen zu wollen. Klar, Schalke 04 ist wichtig für die Stadt. Aber es gibt auch den Wunsch, sich in der Gesamtbetrachtung der Stadt mehr von dem Verein zu lösen.
Die drei Teile der Langzeitreportage „Aufstieg. Abstieg. Aufbruch?“ können unter folgendem Link nachgehört werden: www.deutschlandfunkkultur.de/strukturwandel-gelsenkirchen-aufbruch-bessere-zukunft-100.html