Oberhausen. Noch schafft es das Oberhausener Brücktorviertel im Stadtosten, sich selbst zu stabilisieren. Zu Besuch in einem Quartier, das Hilfe benötigt.
Mord an Bauunternehmer, Blutlachen am Uhlandplatz, Pistolenschüsse: Ältere Einträge im Internet übers Brücktorviertel lassen einen Angst und Bange werden. Und dann war im vergangenen Jahr auch noch Ludger Schepers zu Besuch, Weihbischof im Bistum Essen. Er hat Kinder und Jugendliche im Jugendzentrum am Uhlandpark getroffen. Der Leiter des Jugendzentrums, Marcel Vogel, bat in einem Brief an unsere Redaktion: „Wenn Sie zwecks eines Berichts erscheinen könnten, würde uns das in unserer Sozialarbeit sehr voranbringen.“ Es scheint große Probleme zu geben in dieser Gegend. Kein Wunder, denn die Sozialdaten zeigen: Im Quartier leben überdurchschnittlich viele Arbeitslose, viele Alleinerziehende und viele arme Kinder. Wir wollen uns selbst ein Bild davon machen an einem kalten Wintertag – und werden zunächst ziemlich überrascht.
Nicht viel Geld – und nicht viel zu lachen
Es ist ein schöner Tag. Kühl, aber klar. Der Himmel malt hübsche Farben, bevor der Tag wieder viel zu früh in den Abend übergehen wird. Wir laufen durch die Bismarckstraße. Sie ist eine Allee, die Häuser sind ein architektonisches Zeugnis von Jahrzehnten, durchweg gepflegt. Hübsche Gründerzeitbauten fallen ins Auge. Kein Müll liegt herum. Kein Lärm dringt aus den Fenstern. Es sind kaum Menschen zu sehen. Jemand geht mit dem Hund. Ein junger Mann öffnet das Tor vorm Haus und tritt auf den Gehweg. Es ist Komil Rasouli, der vor fünf Jahren aus dem Iran nach Deutschland gekommen ist und gerade sein Fachabitur macht. „Ich wohne gerne hier“, sagt der 20-Jährige. „Hier gibt es keinen Rassismus.“
Am Rande des Uhlandparks steht das Jugendzentrum Parkhaus des katholischen Jugendwerks „Kurbel“. Leiter Marcel Vogel lässt uns hinter die Fassade der vermeintlichen Idylle blicken. „Die Probleme, die es hier gibt, kann man in den Rap-Texten unserer Jugendlichen klar heraushören“, sagt er. „Dass es nicht viel Geld gibt und nicht viel zu lachen.“ Das Hip-Hop-Projekt ist ein großer Parkhaus-Magnet. Es kommen auch jene Jugendliche, die man sonst schlecht erreicht.
„Das Tal der fliegenden Messer“ ist das hier nicht mehr
„Beim Rappen kann man die Karten auf den Tisch legen“, erklärt Sozialarbeiter Vogel die Motivation der Jungen und Mädchen. Als Profi sieht er freilich mehr dahinter als bloßes Dampfablassen. „Wir fangen die auf, die nirgendwo sonst die Möglichkeit hätten, sich künstlerisch auszuleben. Das sind Bevölkerungsanteile, die sonst keine Bühne haben.“ Auf sich stolz sein, dazu hätte hier kaum jemand einen Grund. „Unsere Jugendlichen haben nicht die besten Schulabschlüsse und wenig Geld, aber sie sollen das Gefühl kriegen: Ich kann was, ich bin ‘was wert.“ Dann, hofft Vogel, trauen sie sich später etwas zu, eine Selbstständigkeit zum Beispiel, „und ziehen vielleicht nicht weg aus dem Viertel, sondern gestalten es mit.“
„Das Tal der fliegenden Messer“ habe es früher übers Brücktorviertel geheißen, sagt Marcel Vogel, der selbst in Sterkrade wohnt. Als er den Job im Jugendzentrum annahm, habe er gedacht: „Da härte ich mich ab.“ Ganz so schlimm ist es nicht gekommen, „aber es ist schon etwas anderes hier als Königshardt“. Einfach nur Kickern, Billard und Töpferkurs reichen nicht aus. „Die Kinder sind kratzbürstiger. Sie gucken immer, was sie für sich herausholen können.“ Etwas, das er von Kindern, die alles haben, nicht kennt. „Hier ist Erziehungsarbeit notwendig“, hat der 33-Jährige schnell festgestellt. Anstand, Respekt, Mobbing müsse man stets im Auge behalten.
Zu Fuß zum Aldi und im Auto des Nachbarn wieder zurück
An der Bushaltestelle am Uhlandplatz, einer etwas kahlen, von Häusern umringten Fläche, stehen drei Frauen. Sie kommen von der Arbeit, halten noch einen Schwatz, bevor sie in verschiedene Richtungen enteilen. „Et war schlimm hier“, sagt eine. Sie ist 61 Jahre alt, arbeitet als Küchenhilfe und hat ein müdes Gesicht. „Aber das ist nicht mehr so.“ Obwohl es im Sommer eine große Schlägerei mit Messerstecherei gegeben habe, wirft eine andere ein. Mehr erzählen wollen sie nicht, ihre Namen nennen auch nicht. „Schreiben Sie mal was übers Arbeitsamt“, wirft eine im Gehen noch hin. Die anderen lachen. Lustig klingt es jedoch nicht.
Unbemerkt ist die Dämmerung hereingebrochen. Vögel zwitschern. Zwei Frauen unterhalten sich, zwischen ihnen wuselt ein Mädchen. Ute Mülling übergibt einen Schützling. Seit 17 Jahren arbeitet sie als Tagesmutter im Brücktorviertel. Auch ihre eigenen Kinder hat sie hier großgezogen. Früher habe es viele Schlägereien gegeben, viel Polizei. Vor 20, 30 Jahren sei das gewesen. Das habe aufgehört. „Jeder kennt jeden“, beschreibt sie die familiäre Atmosphäre. Geschäfte gebe es allerdings kaum – „nur noch Trinkhallen und diese Spielhöllen“, aber wenn einer kein Auto hat und zum Aldi muss, dann sei da immer jemand, der ihn später dort abholt. „Es ist eine Gemeinschaft“, sagt die 58-Jährige. Zumindest unter Alteingesessenen. Zu den polnischen Saisonarbeitern, die zu mehreren zusammenwohnen und frühmorgens von Firmenwagen abgeholt werden, zu denen hätten sie keinen Kontakt.
Akteure im Brücktorviertel wollen gesehen werden
Andrea Auner, die das Quartiersbüro an der Marienburgstraße leitet, bestätigt die Eindrücke: das ruhige Wohnviertel, die Menschen in Geringverdiener-Jobs, die Nachbarschaftshilfe. „Wir haben hier sehr unterschiedliche Lagen“, erklärt sie, „was Einkommen, Bildung und Altersstruktur betrifft.“ Das Nebeneinander von Einheimischen und Zugezogenen, auch mit Fluchterfahrung, bringe, gepaart mit Armut, jene Schwierigkeiten, die ein Viertel zum Kippen bringen könnten. Doch trotz schwieriger Geschichte würde sich das Brücktorviertel immer wieder berappeln.
„Das liegt daran, dass sich hier Menschen beherzt engagieren und einbringen“, sagt Andrea Auner, die für den städtischen Kooperationspartner Lebenshilfe arbeitet. Sie spricht von Einzelpersonen, von der Werbegemeinschaft Knappeninitiative und von den Sozialraumgesprächen im Forum Ost. Die Beteiligung sei beeindruckend – „doch das wird sich auf Dauer nicht von alleine so halten“. Von Stadtverwaltung und Politik wünscht sie sich das, was sie bei ihrer Arbeit im Quartiersbüro selbst tagtäglich beherzigt: die Menschen mit ihren Sorgen ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören, auf ihre Expertise zu vertrauen. Ein Anfang sei gemacht: Oberbürgermeister Daniel Schranz will am Sozialraumgespräch teilnehmen. Andrea Auner freut sich darauf und auf das Licht, das damit aufs Brücktorviertel fallen wird.
>>> Aus der Sozialraumanalyse der Stadt
„Oberhausen-Ost ist ein eher wenig familiengeprägter Sozialraum. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen liegt unter dem Durchschnitt der Stadt, der Altenquotient hingegen darüber. Das Brücktorviertel macht da als relativ junges Quartier eine Ausnahme. Parallel zu den hohen Anteilen an Kindern und Jugendlichen ist der Anteil der nichtdeutschen Bevölkerung im Brücktorviertel überdurchschnittlich hoch.
Im Sozialraum Oberhausen-Ost lebt in fast jedem dritten Haushalt mit Kindern nur ein Elternteil. Der Anteil der LeistungsempfängerInnen von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld liegt überdurchschnittlich hoch. Im Brücktorviertel wird der Wert noch übertroffen. Fast jeder dritte unter 65-Jährige ist hier von Leistungen nach dem SGB II abhängig. Bei den Kindern unter 15 Jahren bezieht sogar jedes zweite Sozialgeld. Die Kinderarmut befindet sich hier auf einem sehr hohen Niveau.
Die Arbeitslosenrate liegt im Sozialraum Oberhausen-Ost über dem Wert der Gesamtstadt. Deutlich über dem Mittelwert des Sozialraums liegt die Arbeitslosenrate bei den Jugendlichen und den 55- bis unter 65-Jährigen im Brücktorviertel.
In Oberhausen-Ost wird vorrangig nach der Grundschule die Gesamtschule als weiterführende Schulform gewählt, gefolgt vom Gymnasium und der Realschule. Der geringste Anteil wechselt zur Hauptschule. Extrem hoch ist die Übergangsquote zur Hauptschule jedoch im Brücktorviertel. Dort wechselt jedes zweite Kind zu dieser Schulform.“
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