Gelsenkirchen. Casper musste im Alter von drei Monaten im Bergmannsheil in Gelsenkirchen der Schädelknochen geöffnet werden. Wie es ihm danach ergangen ist.
Als Casper im Herbst 2019 auf die Welt kommt, ist die Stirn an seinem kleinen Kopf nach vorn gewölbt, wie ein kleiner Bug. Die Eltern bekommen einen Schreck, im Krankenhaus beruhigt man sie: Das wächst sich aus, keine Sorge. Die leichte Verformung rühre von der Geburt her. Casper ist das erste Kind von Lisa und Paul, der kleine Junge zeigte sonst keinerlei Auffälligkeiten und so wollen die Eltern nur zu gerne glauben, was die Ärzte sagen. In den ersten Wochen entwickelt sich der Säugling auch ganz normal, ist ein unkompliziertes Baby. Nur die Stirn behält ihre leicht spitz nach vorn weisende Form.
Bei der U3-Untersuchung hieß es: Warten Sie erstmal ab!
Bei der Standard-U3-Untersuchung vier Wochen nach der Geburt beruhigt auch die Kinderärztin in der Praxis: Wir können erstmal abwarten, ich würde mir da keine großen Sorgen machen. Lisa und Paul machen sich trotzdem Sorgen. „Ich hatte so ein Bauchgefühl, dass wir nicht abwarten sollten“, erklärt sie heute, mehr als eineinhalb Jahre später. Dass sie darauf hörte, hat ihrem Casper wohl eine ganze Menge Leid erspart.
Schädelnähte waren zu früh zusammen gewachsen
Lisa fragte ihre Hebamme, ob sie einen Mediziner kenne, der sich speziell mit solchen Kopfverformungen auskennt. Die Hebamme überlegte, hörte sich um und empfahl ihr schließlich für die Zweitmeinung den Kinder-Neurochirurgen Dr. Lutz Schreiber. Lisa rief ihn an, der Termin kam sehr schnell zustande. Die Diagnose des Spezialisten war eindeutig: Kraniosynostose. Bei Casper waren die Schädelnähte frühzeitig – schon vor der Geburt verknöchert beziehungsweise zusammengewachsen. Ein spezieller Ultraschall lieferte das Bild für die Diagnose, aber auch von außen sah der Spezialist, dass etwa auch die Augen nicht in der sonst üblichen, schützenden Knochenhöhle unterhalb der Brauen saßen, nahezu ungeschützt waren.
Spalt ermöglicht dem Kopf zu wachsen und genug Platz für das Gehirn zu schaffen
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Normalerweise bleibt bei Neugeborenen ein Spalt der Schädeldecke offen, die Fontanelle, die es dem Kopf erlaubt, zu wachsen und so dauerhaft genug Platz auch für das Gehirn zu schaffen. Normalerweise schließt sich die Fontanelle bei Babys erst mit 18, manchmal erst mit 32 Monaten. Bei Casper jedoch war dies quasi schon bei der Geburt geschehen.
Frühe Diagnose hat einen größeren Eingriff erspart
Casper hatte das große Glück, dass seine Eltern so früh reagiert haben. „In diesen Fällen ist eine Operation, bei der die Naht geöffnet wird, endoskopisch, also minimalinvasiv möglich; aber nur bis zu einem Alter von vier Monaten. Casper war noch keine zwei Monate alt. Seine Aussichten, sich völlig normal und ohne Spätfolgen entwickeln zu können, waren optimal“, erklärt der Chirurg. Bei einer großen Operation, die zu einem späteren Zeitpunkt wohl unumgänglich gewesen wäre, hätte man mit hohem Blutverlust rechnen müssen, weil die Schädelknochen stark durchblutet sind. Auch die Erholungsphase wäre deutlich länger als bei der Endoskopie. „Casper hatte hinterher keinen großen Kopfverband, sondern ein Pflaster. Und eine entsprechend kleine Narbe“, erklärt Schreiber. Tatsächlich ist die Narbe bereits heute kaum noch sichtbar, zudem unter den Haaren versteckt.
„Als hätte ich einen sehr schweren Rucksack auf den Schultern, den ich nicht absetzen kann“
„Natürlich war die Diagnose ein Schock für uns. Ich hab mich gefühlt, als hätte ich einen sehr schweren Rucksack auf den Schultern, den ich nicht abnehmen kann“, schildert Mutter Lise ihre Gefühle bei Übermittlung der Nachricht. Dennoch entschlossen sich die Eltern schnell, der Operation zuzustimmen. Ohne Operation hätten Entwicklungsstörungen gedroht, wenn der Hirndruck zu groß ist, das Gehirn nicht genug Platz hat. Und bei der endoskopischen Operation waren die Begleitrisiken immerhin deutlich geringer als bei einer großen Operation mit einer Schädelöffnung.
„Wir arbeiten dabei mit einer Diamantfräse, die extrem fein ist, und auch das Endoskop ist ein besonders kleines. Kinderschädelknochen sind unterschiedlich dick, da braucht der Chirurg Erfahrung“, betont Schreiber. Immerhin liegt direkt unter dem Schädelknochen die Hirnhaut, die nicht verletzt werden darf. Schreiber hat diese Operation bereits 40 mal durchgeführt, davon 80 Prozent endoskopisch - allein in den zwei Jahren, in denen er am Bergmannsheil Buer, in der Kinderklinik Datteln und im Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen operiert. Mittlerweile ist er fest von Duisburg ans Bergmannsheil und die Vestkliniken gewechselt.
Unterstützung beim Wickeln des Säuglings, der an vielen Schläuchen hing
Casper ist im Bergmannsheil Buer operiert worden, hier hat er auch die Zeit auf der Kinder-Intensivstation verbracht. „Wir haben uns sofort in guten Händen gefühlt und sehr, sehr gut betreut. Es war immer nur eine Schwester komplett zuständig für unser Kind je Schicht. Ich durfte gemeinsam mit ihr mein Kind wickeln, sie hat mir geholfen mit den ganzen Schläuchen, an denen Casper hing. Und ich konnte nach dem Eingriff stillen, er hatte Kohldampf“, erinnert sich die Mama. Die Dankbarkeit kommt unübersehbar aus tiefster Seele, die Träne bei der Erinnerung daran drückt sie tapfer weg. Beide Eltern durften in der Klinik bleiben in den schweren ersten Tagen, um ihr Kind zu begleiten.
Gute Atmosphäre und keine Eile sind wichtig für die kleinen Patienten
Dr. Frank Niemann, der Leiter der Kinder-Intensivmedizin im Hause, betont, wie wichtig es ist, eine gute Atmosphäre für die kleinen Patienten zu schaffen, die Anästhesie und die Eingriffe ganz in Ruhe vorzubereiten. dem Kind Zeit zu geben. An den Casper aus jenen Dezembertagen 2019 erinnert er sich gut. „Er war ein völlig unkomplizierter Patient, was natürlich auch den Eltern zu verdanken war, die immer da waren.“
An diesem Juli-Tag 2021, an dem Casper erstmals wieder in die Klinik gekommen ist, tobt er vor unseren Augen ganz ohne Scheu durch die Turnhalle der Kinderstation, klettert aufs Trampolin, rennt die Rutsche runter, schaukelt und hat unübersehbar Spaß. Was die Doktoren sichtlich rührt.
Den Helm zu Unrecht gefürchtet
Frühzeitig Zweitmeinung beim Spezialisten einholen
Kraniosynostosen sind eher selten. In etwa 300 Fällen im Jahr in Deutschland leiden Neugeborene unter bereits bei der Geburt zugewachsener beziehungsweise vorzeitig verknöcherter Schädelnaht. Entsprechend selten haben Chirurgen Erfahrung bei diesem komplizierten Eingriff. Möglich ist der minimalinvasive Eingriff nur bis zum vierten Lebensmonat, und auch das erst seit wenigen Jahren. Bei älteren Babys ist eine offene Operation notwendig in dem Fall, zudem drohen Entwicklungsstörungen, wenn der Eingriff zu spät erfolgt.Dr. Lutz Schreiber appelliert daher an Eltern und Kinderärzte, möglichst früh eine Zweitmeinung bei einem erfahrenen Spezialisten bei Verdacht auf Kraniosynostose einzuholen. Er versichert, nicht vorzeitig zu operieren und Eingriffe zu vermeiden, wo immer es möglich ist.
Schwer gefallen ist den Eltern – „wie allen Eltern in der Situation“, betont Schreiber – anfangs die Vorstellung, dass ihr Söhnchen monatelang 23 Stunden am Tag einen Helm tragen musste nach der OP. Einen Helm, der (ohne Strahlenbelastung) nach 3D-Vermessungen alle vier Wochen angepasst werden musste. Der Helm schützte und formte den Schädel, ohne zu drücken, ließ Luft genau da, wo der Schädel sich ausdehnen sollte.
Dass das fürs Kind nicht unangenehm ist, mögen Eltern in aller Regel nicht glauben. „Aber es war wirklich so. Der Helm hat ihn nie gestört. Trotzdem waren wir heilfroh, als wir ihn schon deutlich früher als gedacht weglassen konnten, weil alles sich so gut entwickelt hat“, seufzt Lisa. „Tatsächlich ist Casper heute ein Käppi-Kind. Er liebt es, Käppis zu tragen. Und den Helm setzt er jetzt immer seinem Stoff-Äffchen auf.“ Im August kommt Casper in die Kita. Er freut sich drauf.
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