Essen. StudiVZ liegt seit Jahren in der digitalen Mottenkiste. Gegen Facebook hatte das Portal keine Chance, weil die VZler auf das falsche Pferd setzten.
Ein nicht gelöschter StudiVZ-Account ist ungefähr das, was früher mal der Dachboden war: Fundgrube, Zeitkapsel und Relikt einer vergangenen Ära. So wie in Zeiten von Wohnungsknappheit und daraus resultierendem Obergeschossausbau die Dachböden allmählich aussterben, ist auch das StudiVZ in Zeiten von Facebook und Instagram seit Jahren totgesagt.
Dabei ist das Online-Portal, das einst als größter Facebook-Rivale galt, immer noch da, wie ich feststelle, als ich mich zum ersten Mal seit gut fünf Jahren wieder einlogge. Jenseits der Anmeldemaske gelange ich in ein Dornröschenschloss: Es ist, als würden dort die digitalen Fliegen reglos an den Wänden sitzen. Die Zeit ist einfach stehengeblieben. Eine Zeitreise zum Ich, das ich zwischen 2006 und 2010 war.
"Wie macht eigentlich eine Giraffe?"
Im Nachrichten-Postfach finde ich knapp neun Jahre alte Einladungen zu Einzugs-Partys von Wohngemeinschaften, die vor Jahren schon aufgelöst worden sind. Dann ist da noch ein angstdurchsetzter Dialog über die scheinbar unüberwindbare Zwischenprüfung, die längst bestanden und vergessen ist. Und 2009 hat mich zuletzt jemand gegruschelt. So richtig verstanden hat die Bedeutung des Gruschelns wohl niemand: Gegrüßt und gleichzeitig gekuschelt fühlen sollte sich der Begruschelte, mutmaßten manche. Schon damals hab ich mich gefragt, ob man da jetzt digital zurückgruscheln soll oder das einfach nur analog zur Kenntnis nimmt.
So, wie ja auch die StudiVZ-Gruppen eher zur reinen Kenntnisnahme verdammt waren: Die hatten ihren eigentlichen Zweck, Diskussionsthemen unter einem Stichwort zu bündeln, schon sehr früh eingebüßt. Bei gefühlt 90 Prozent der mehr als 300.000 Gruppen ging es sehr schnell nur noch um einen möglichst originellen Namen. Für die Freunde extensiver Feiern gab es die Gruppe "Mein Filmriss dauert länger, als eure Party". Tierfreunde versammelten sich unter dem Titel "Wie macht eigentlich eine Giraffe?". Und Freunde des subversiven Witzes waren Mitglieder bei "Eine Sarkasmusgruppe - wie sinnvoll!". Für wen die Gruppe "Ich hab drei Bären auf der Brust, ich bin ne Zwiebel..." gedacht sein könnte, war dem Gruppengründer wahrscheinlich auch egal. Vielleicht hatte er auch gerade einen verdammt fiesen Filmriss.
Nur noch Lea gratuliert zum Geburtstag
Und dann ist da ja noch die Pinnwand, die vornehmlich der Übermittlung von Geburtstagsglückwünschen diente: Die letzten Grüße von Menschen, die ich kenne, stammen von 2011. In den Jahren danach flatterte jeweils nur eine einzige Gratulation einer mir unbekannten jungen Frau einsam an die Pinnwand, wie ich jetzt feststelle: Lea, die VZ-Moderatorin hat mir drei Mal "viel Glück, Erfolg oder Was-auch-immer-Du-Dir-wünschst" gewünscht. Das hat sie offenbar bei allen gemacht. Jedes Jahr derselbe Spruch.
Schließlich stolpere ich über diesen Satz: "Ach, da schau her, Du jetzt auch hier - unglaublich, dass langsam auch wirklich ALLE drin sind". Im Oktober 2006 habe ich das einem Menschen namens "Gelöschte Person" geschrieben. Das ist symptomatisch: Denn genau wie jene "Gelöschte Person" sind mittlerweile ALLE eben nicht mehr drin.
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In der Entwicklung stehengeblieben
"Gelöschte Person" ist nicht der oder die einzige in meiner angestaubten Freundesliste mit diesem Profilnamen - viele heißen bei StudiVZ jetzt so. Könnte der Untertitel für Terminator 6 sein - oder besser: für Terminator 2.0. Es gibt womöglich Hunderttausende solcher digital ausradierten Mitglieder. Und die Dunkelziffer der Karteileichen, die zwar noch nicht gelöscht sind, aber im Sinne eines Kartei-Ordnungssystems schon seit Jahren verwesen, ist wahrscheinlich unübersichtlich hoch.
Wie konnte das passieren? Über sechs Millionen Menschen haben in der Hochphase das StudiVZ intensiv genutzt. Jetzt gibt es aktuell noch knapp eine Millionen StudiVZ-Accounts. Und die meisten davon gehören wahrscheinlich Menschen, die aus Bequemlichkeit, Vergesslichkeit oder purer Nostalgie ihr Profil noch nicht vollständig gelöscht haben. Aktiv ist hier wohl kaum noch jemand.
Ibrahim Evsan, Social-Media-Experte und unter anderem Gründer des VIdeoportals Sevenload, hat die digitale Netzwerk-Aufbruchstimmung um 2005 aktiv miterlebt. Er hat eine Erklärung für den Niedergang von StudiVZ. "Das Ganze hat den Riesennachteil, dass es in der Entwicklung stehengeblieben ist."
Gruscheln allein reicht nicht
Die Gruschel-Funktion etwa sei lediglich der "Anfang einer Idee von direkter sozialer Interaktion" gewesen. Vergleichbar mit dem "Anstupsen"-Button auf Facebook, aber das allein reiche nicht. "Das ganze Portal ist ja eine Kopie von Facebook. Allerdings kann man sich beim Original mit jedem auf der Welt vernetzen, das ist doch geil. Große Ideen setzen sich immer durch. Sobald man kleinklein denkt, wird man scheitern", glaubt Evsan.
Im November 2005 hatten die Studenten Ehssan Dariani und Dennis Bemmann das Portal entwickelt. Die erste Version sah dem US-Original durchaus ähnlich - nur war es eher rosarot statt blau. Dariani sorgte bald mit Skandälchen für Schlagzeilen (Freunden schickte er eine Geburtstagseinladung im Stil des Nazi-Propaganda-Organs "Völkischer Beobachter") und StudiVZ sorgte mit Datenschutz-Problemen für Unmut bei den Mitgliedern. Erst änderten die Portalmacher einfach die AGB, dann tauchten Sicherheitslücken auf: Nutzer konnten Daten von anderen Nutzern abrufen, ohne mit ihnen offiziell digital befreundet zu sein.
Hacker-Coup wird vom Krimi zur Tragödie
Und dann war da ja noch die Sache mit der Globalisierung. In Ländern außerhalb des deutschsprachigen Raums konnten die Menschen mit dem Portal nichts anfangen, StudiVZ war zu sehr auf Deutschland, Österreich und die Schweiz zugeschnitten. Falls irgendwer am Ende des Auslandssemesters den neuen Freunden am Flughafen ein tröstendes "Don't worry, I will gruschel you" zugerufen haben sollte, dürfte er als Reaktion kaum mehr als ein irritiertes Kopfschütteln erhalten haben. In den meisten Ländern waren die Menschen schon bei Facebook angemeldet. Um Kontakt mit Menschen jenseits von Staatsgrenzen halten zu können, war StudiVZ nie geeignet.
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Die Manager vom Holtzbrinck-Verlag hätten ahnen können, dass eben dieser Aspekt die Nutzer von StudiVZ weg und zu Facebook hin treiben könnte. Haben sie aber nicht. 2007 kaufte der Verlagsriese das Portal für die Rekordsumme von 85 Millionen Euro. Dariani und Bemmann, damals noch in den 20ern, waren danach gemachte Leute.
Während die Facebook-Macher die weltweite Vernetzung vorantrieben, setzte Holtzbrinck auf ein anderes Pferd: Datenschutz. In Kooperation mit Datenschutzexperten und -Behörden wollte der Verlag StudiVZ und die inzwischen gewachsenen Ableger SchülerVZ und MeinVZ zu Vorzeigeprojekten ausbauen. 2009 gelang es dennoch dem 20-jährigen Computertüftler Matthias L., Nickname "Exit", die Daten von Millionen Nutzern zu stehlen - der Hacker-Coup entwickelte sich zum Krimi und endete mit einer Tragödie.
Schweigegeld vom StudiVZ
Angeblich wollte L. von den VZ-Machern Geld im Austausch gegen die geklauten Daten erpressen. Bei einem Treffen mit dem Management wird der junge Hacker verhaftet - und erhängt sich wenig später in seiner Einzelzelle. Danach mehren sich Hinweise, dass Matthias L. das Unternehmen nicht erpressen wollte, ihm vielmehr ein Schweigegeld geboten worden war.
Der Ruf von StudiVZ war danach arg angeknackst. Daran änderte das Bemühen Holtzbrincks, StudiVZ endlich datensicher zu machen, wenig. Trotz guter Bewertungen durch Stiftung Warentest: Immer mehr Menschen wechselten zum Konkurrenzportal Facebook, obwohl das schon damals als riesige Datensammelmaschine galt. StudiVZ, das waren die Langweiler mit dem "Deine Daten gehören Dir"-Siegel - und bei Facebook gab's Minispiele mit Farmtierchen und die große weite Welt.
"Dates mit den süßesten Mädels aus StudiVZ"
Ibrahim Evsan kann nachvollziehen, dass Datenschutz für viele Nutzer offenbar keine so große Rolle spielt, dass sie auf soziale Netzwerke verzichten würden: "Was heißt schon Datenschutz? In einer Welt, in der die NSA sowieso alles abhören kann, gibt es den gar nicht. Eigentlich müsste jemand mit Macht und Geld die Datenschützer alle verklagen, weil die ihren Job nicht richtig machen und uns ja offenbar eben nicht schützen."
Eine neue Sache entdecke ich dann doch auf dem Portal: Die "VZ 3D-Welt" wird da beworben. "Chatten und verlieben" ist dort demnach möglich, außerdem kann ich "neue Leute treffen" und "Punkte sammeln". Das probiere ich gleich mal aus: So richtig 3D ist die bunte Welt im Stil des PC-Spiels "Die Sims" dann nicht, dafür stimmt das mit dem Punktesammeln: Ich lasse meinen Avatar mein virtuelles Wohnzimmer aufräumen, indem ich ein bisschen hier und ein bisschen dorthin klicke. Dafür bekomme ich dann einen "schicken Garten".
Den Absprung vom Spaß- und Flirtportal habe StudiVZ nicht geschafft, sagt Ibrahim Evsan. Noch immer gibt es im Netz Seiten mit Tipps für angehende VZ-Aufreißer. Auf VZAppeal.com etwa verrät ein Flirtexpperte, wie man "Dates mit den süßesten Mädels aus StudiVZ & Co." kriegen kann. Ein Diplompsychologe bestätigt gar die Wirksamkeit der Ratschläge.
Ein Werkzeug für das Selbstmarketing
"Soziale Online-Netzwerke haben sich mittlerweile vom Unterhaltungsmedium zu einem Werkzeug des Selbstmarketings entwickelt." Heute wählten die Nutzer gezielter aus, welche Fotos sie posteten, und die allgegenwärtigen Selfies hätten oft auch eine bestimmte Intention, die an die Außenwelt gesendet werden soll. "Durch ihr Profil machen die Leute ihre Person zur Marke", glaubt der Social-Media-Experte.
Schließlich finde ich auf der Startseite von StudiVZ noch eine Stellenanzeige, die mich überrascht: Gesucht wird ein Praktikant für den Relaunch der VZ-Netzwerke. Relaunch? Davon war zuletzt vor einem Jahr die Rede, passiert ist indes nichts. Eine Stellungnahme dazu gab es von StudiVZ leider nicht.
Ein Countdown auf der gehässigen Internetseite wannstirbtstudivz hat das Portal schon 2013 voreilig ausgezählt. Doch während der Ableger SchülerVZ schon lange vom Netz ist, existiert StudiVZ noch immer. Wer seinen alten Account nicht gelöscht hat, und noch einmal nachlesen mag, was er vor zehn Jahren alles so getrieben hat, sollte sich mal wieder einloggen. Schauen Sie bei der Gelegenheit mal an Ihre alte Pinnwand, Lea hat auch Ihnen als einziger Mensch jedes Jahr treu zum Geburtstag gratuliert. Es wird Zeit - gratulieren Sie endlich mal zurück!