Berlin. Wer vom Dunning-Kruger-Effekt betroffen ist, überschätzt seine Fähigkeiten maßlos. Ein Arzt erklärt, wann das besonders gefährlich ist.

Florence Foster Jenkins gilt für viele bis heute als die schlechteste Sängerin der Welt. Trotz ihres mangelhaften Gesangtalents trat die exzentrische New Yorkerin (1868-1944) sogar in der legendären Carnegie Hall auf – vor ausverkauftem Haus.

Doch statt begeisterter „Da capo“-Rufe erfüllte an jenem Abend im Jahre 1944 schallendes Gelächter das ehrwürdige Konzerthaus in Manhattan. Zu bizarr war der Auftritt, zu schräg die Intonation der Sängerin. Doch die „Königin der Dissonanzen“ ließ sich von Kritik an ihrer Stimme und ihrem Talent zeitlebens nicht beirren. Sie war überzeugt, eine große Operndiva zu sein.

Doch wie kann es zu einer derartigen Selbstüberschätzung überhaupt kommen? Dr. med. Andreas Jähne, ärztlicher Direktor und Chefarzt der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura, hat eine Vermutung: „Florence Foster Jenkins hat in ihrer eigenen Welt gelebt. Es kann gut sein, dass sie von einem Dunning-Kruger-Effekt betroffen war.“ Der Dunning-Kruger-Effekt beschreibt das Phänomen, dass inkompetente Menschen ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen. Die Fähigkeiten kompetenterer Menschen werden gleichzeitig unterschätzt.

Dunning-Kruger-Effekt kann jeden treffen

Fest steht: Vor dem Dunning-Kruger-Effekt ist niemand gefeit. Faktoren wie Halbwissen und eine fehlende Fehlerkultur begünstigen sein Auftreten, weiß der Experte: „Geradezu gefährlich ist die Kombination aus Inkompetenz und Ignoranz. Wenn es Feedback gibt und dies nicht wahrgenommen wird, ist der Selbstüberschätzung Tür und Tor geöffnet.“ Viele Experten vermuten, dass auch die Persönlichkeitsstruktur, beispielsweise Züge von Unsicherheit oder Narzissmus, für die Entstehung des Dunning-Kruger-Effekts eine Rolle spielen könnte. Genaue wissenschaftliche Daten fehlen hierzu bislang aber noch.

Den Folgen des Dunning-Kruger-Effekts begegnet man im Alltag regelmäßig: Etwa in Form lautstarker Diskussionen von Fußballfans nach einem Spiel und ihre feste Überzeugung, sie hätten anstelle des professionellen Trainerteams bessere Entscheidungen getroffen. Oder die Tante, die sich sicher ist, eine hervorragende zu sein – deren persönliche Unfallstatistik aber weit über dem Durchschnitt liegt.

Doch nicht hinter jeder schrägen Selbsteinschätzung muss ein Dunning-Kruger-Effekt stecken, so Dr. Jähne: „Selbstüberschätzung gepaart mit der Ignoranz der Inkompetenz macht es erst zum Dunning-Kruger-Effekt. Der Übergang ist fließend, es ist schwierig zu sagen, was „normal“ ist und was nicht. Der schrullige Verwandte, der zu allem einen Kommentar hat, oder altkluge Fußballfans tun keinem weh. Schwierig wird es, wenn die Handlung negative Folgen hat, Freunde sich zurückziehen, Familien zerbrechen oder juristische Konsequenzen drohen.“

Maßlose Selbstüberschätzung: Bei diesen Personen besonders gefährlich

Der Dunning-Kruger-Effekt sei besonders gefährlich, wenn er Personen mit hoher Verantwortung betreffe: „Nicht umsonst haben wir in vielen Bereichen unseres Lebens das Prinzip der gegenseitigen Kontrolle oder eines Gremiums, das Entscheidungen trifft und nicht einzelne Menschen. Parlamente, Kabinette, Gewaltenteilung oder Expertenräte und Expertinnenräte gewährleisten das. Vielfältige Meinungen sind wichtig, um verschiedene Aspekte einer Sache zu verstehen und gute Entscheidungen zu treffen.“ Menschen, die dieses Prinzip aushebeln, weil sie sich in ihrer Kompetenz überschätzen und gleichzeitig andere Meinungen ignorieren, könnten dagegen leicht den Blick für die Realität verlieren und nachteilige Entscheidungen treffen, so der Experte.

Das Gegenteil: das Hochstapler-Syndrom

Genau gegenteilig wirkt sich das Imposter-Syndrom aus, auch Hochstapler-Syndrom genannt. Betroffene halten sich für nicht besonders begabt oder kompetent und fürchten, dass sie jederzeit als Hochstapler auffliegen könnten. Tatsächlich sind Menschen mit Imposter-Syndrom aber gewöhnlich alles andere als inkompetent.

„Beide psychologischen Phänomene sind recht neu, sie werden erst seit den 1990er Jahren in der Fachliteratur beschrieben“, erklärt Jähne. „Es gibt keine verlässlichen Instrumente zur Messung oder Identifizierung der Phänomene. Da es sich beim Dunning-Kruger-Effekt um eine verzerrte Selbstwahrnehmung und nicht um eine anerkannte psychische Krankheit handelt, gibt es keine genauen Zahlen zu Betroffenen.“

Hilfe für Betroffene des Dunning-Kruger-Effekt

Um zu erkennen, ob man selbst oder jemand im eigenen Umfeld betroffen ist, sollte man sich folgende Fragen stellen: Wie geht man mit Fehlern um? Nimmt man selbst oder der Mitmensch Feedback an? Und: Ist Kritik möglich oder macht man selbst oder der andere in der eigenen Wahrnehmung gar keine Fehler?

Psychologische Hilfe kann empfehlenswert sein, wenn ein Leidensdruck entsteht oder Probleme im sozialen oder beruflichen Umfeld auftauchen. Allerdings müssen Betroffene erst selbst verstehen, dass sie ein Problem haben. Ohne diese Einsicht kann auch psychologisches Fachpersonal kaum Hilfe leisten.