Essen. Öl war knapp, da sollten die Autos in der Garage bleiben. Vor 50 Jahren erging in Deutschland ein Sonntagsfahrverbot. Viel gebracht hat’s nicht.
Grau das Sakko, gepunktet die Krawatte, ernst der Blick. Am 24. November 1973 wendet sich Bundeskanzler Willy Brandt in einer Fernsehansprache mit einer ganz besonderen Botschaft an die Nation: „Zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges“, kündigt er an, was viele Bürger und Bürgerinnen sich trotz vieler Ankündigungen nicht glauben können, „wird sich morgen und an den folgenden Sonntagen vor Weihnachten unser Land in eine Fußgängerzone verwandeln.“
Es ist eine Verwandlung, die sich schon länger angekündigt hat. Denn es ist Krieg im Nahen Osten. Wieder einmal. Am 6. Oktober 1973, dem jüdischen Feiertag Jom Kippur, haben Ägypten und Syrien Israel angegriffen, um den Sinai und die Golanhöhen zurückzuerobern. Gut zwei Wochen dauert es, und Israel hat die Angreifer an beiden Fronten zurückgedrängt und geschlagen. Am 24. Oktober tritt der Waffenstillstand in Kraft. Doch damit gehen die Probleme los.
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„Die Araber drehen uns den Hahn zu“
Vereint im Groll auf Europa und die USA, beschließt die Organisation der Arabischen Erdölexportierenden Staaten (OPEC), ihre Produktion sofort um fünf Prozent zu drosseln – und dann jeden Monat um weitere fünf Prozent, bis zur „vollständigen Evakuierung israelischer Truppen aus arabischen Territorien“. Der Ölpreis steigt rasch von rund drei US-Dollar pro Barrel (159 Liter) auf mehr als fünf Dollar, im folgenden Jahr sogar auf mehr als zwölf US-Dollar (heute sind es 83 Dollar).
Der Liter Normalbenzin klettert auf 75 Pfennig – ein Jahr zuvor stand er noch bei 58 Pfennig. „Benzinpreis explodiert: Bald 1 Mark!“ warnt die Boulevardpresse. „Die Araber drehen uns den Hahn zu“, titeln andere deutsche Zeitungen und fragen: „Gehen in Europa die Lichter aus?“ Auch die Regierung hat den Ernst der Lage schnell erkannt und versucht gegenzusteuern. Schon am 9. November verabschiedet der Bundestag das Energiesicherungsgesetz. Benzinsparen wird die erste Bürgerpflicht. Von heute auf morgen haben freie Bürger keine freie Fahrt mehr. Auf Autobahnen gilt Tempo 100, auf Landstraßen darf nicht schneller als 80 gefahren werden. Selbst der ADAC mahnt zu „so wenig Bleifuß wie möglich“.
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Das ist noch nicht alles. Auch das Benzin an den Tankstellen wird rationiert. Erst auf 15, später auf zehn Liter pro Kunde und Besuch. Aus „mal eben schnell tanken“, wird eine Geduldsprobe. Unter 60 Minuten Wartezeit vor den Zapfsäulen läuft vielerorts nichts mehr. Manche klappern Tankstelle um Tankstelle ab, um Treibstoff zu hamstern. Bis es keine Kanister mehr zu kaufen gibt. Um Benzinklau vorzubeugen, etabliert sich zudem ein bisher eher belächeltes Zubehörteil – der abschließbare Tankdeckel.
Auch die Politik zieht mit. Wirtschaftsminister Hans Friedrichs (FDP) etwa verkündet, vorerst in seiner Zweitwohnung in Bonn-Röttgen auf einen ölbeheizten Swimmingpool zu verzichten. Immerhin. Doch es wird noch schlimmer. Am Totensonntag vor 50 Jahren kommt es zum ersten „Fahrverbot für den motorischen Verkehr in der Bundesrepublik und West-Berlin“. Genau wie an den kommenden drei Sonntagen müssen 13 Millionen Fahrzeuge von Sonntagmorgen um 3 Uhr bis Montagmorgen um 3 Uhr auf ihren Parkplätzen stehen bleiben.
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Gefahren werden darf nur mit Ausnahmegenehmigungen – die bergeweise beantragt, aber kaum ausgegeben werden. Erteilt werden sie nämlich nur für Busfahrer, Rettungskräfte, Ärzte, Diplomaten, Journalisten und Bedienstete, die die Infrastruktur aufrechterhalten müssen.
Dementsprechend groß ist die Sorge im Land. Wirte in Ausflugsregionen rechnen mit einem baldigen Bankrott, die Polizei rüstet für einen Kontroll-Großeinsatz, und auf den Pferdemärkten, die es damals hier und da noch gibt, schnellen die Preise in die Höhe. Die Firma Porsche sorgt sich derweil um die Laune ihrer Neukunden, die den frisch erworbenen Flitzer nun ausgerechnet an den Wochenenden in der Garage stehen lassen müssen. Als „Vollblutfahrer“ solle man nicht unglücklich über die „Restriktionen“ sein, ist in einem von Ex-Rennfahrer Fritz Huschke von Hanstein unterschriebenen Trostbrief zu lesen. Die Zeiten würden auch wieder besser.
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So schlecht wie befürchtet sind sie am ersten autofreien Sonntag aber gar nicht. Die Deutschen nehmen den Auftakt des Fahrverbotes mit Humor, sehen die leeren Straßen auch als Gelegenheit. Und das Wetter ist in vielen Regionen nicht gut, aber auch nicht so schlecht wie angekündigt. Auf Autobahnen, auf denen sonst gerast wird, wird – trotz eindringlicher Warnung der Behörden – an diesem Tag geradelt. Hauptverkehrsstraßen werden zu Spazierwegen, Spaßvögel in Scheich- oder Rikschaträgerverkleidung zu begehrten Motiven von Kameraleuten und Fotografen.
„Wieder einen ohne Erlaubnis erwischt“
Und ja, die Menschen werden auch erfinderisch und kreativ. Punktspiele der unteren Sportligen sind – wenn irgendwie möglich – einen Tag vorverlegt worden. Ein Wirt im Ruhrgebiet sammelt seine Kundschaft per Kutsche, ein und ein Reiterverein will mit dem auf Plakate gemalten Spruch „Man fährt wieder Pferd“ um neue Mitglieder werben. Auch die Kinos im Land rühren die Werbetrommel. Bei ihnen, propagieren sie, könne man zumindest „Entspannung tanken“.
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Voll sind die Innenstädte, leer die Fahrradkeller. Kaum ein Drahtesel, der an diesem Sonntag nicht benutzt wird. Was einen Pfarrer mit Humor in Bayern dazu bewegt, seinen Organisten anzuweisen, die Kirchgänger mit dem Lied „Ja, mir san mi’m Radl da“ zu begrüßen.
Wer im Auto durch die Straßen rollt, wird misstrauisch beäugt. Wird ein Fahrer von der Polizei angehalten und kontrolliert, versammelt sich oft zügig eine ganze Gruppe von Neugierigen. Ist der Angehaltene ohne Erlaubnis unterwegs, gibt es Applaus. „Wieder einen erwischt.“ Insgesamt aber, zieht die Polizei später Bilanz, halten sie die Deutschen an das Verbot. Die Blumenhändler im Land haben dadurch wenig zu lachen. Bundesweit klagen sie über einen 70-prozentigen Umsatzausfall, weil viele an diesem Totensonntag den Gang zum meist am Rande der Stadt gelegenen Friedhof ausfallen lassen.
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Nach vier Wochen ist der Spuk vorbei
Doch parallel zum Wetter wird die Stimmung im Land mit jedem Sonntag ohne Auto schlechter. Gastronomen klagen über Umsatzrückgänge von über 95 Prozent, in den deutschen Wintersportgebieten bleiben die Pisten trotz guter Schneeverhältnisse so leer wie die meisten Hotels. In verschiedenen Städten lebende Familien maulen – ähnlich wie fast 50 Jahre später in der Corona-Zeit – über fehlende Begegnungsmöglichkeiten in der Vorweihnachtszeit, Patienten in Krankenhäusern vermissen den Besuch von Freunden und Verwandtschaft. Und als sich abzeichnet, dass es bei Versorgung mit Öl doch keine Engpässe gibt, schwindet das Verständnis in der Bevölkerung vollends.
Wieder reagiert die Politik schnell. Nach vier Wochen ist das Sonntagsfahrverbot Geschichte. Gefahren wird trotz weiterhin steigender Preise noch lange Zeit von Jahr zu Jahr mehr und schneller. Schon nach ein paar Wochen sind die Sparappelle in Vergessenheit geraten, erinnert sich kaum noch jemand an die guten Vorsätze, die er in der Ölkrise gefasst hat. Erst im Spätsommer des kommenden Jahres werden viele wieder an die stillen Sonntage erinnert. Etliche Kliniken im Land verzeichnen im August 1974 eine im Vergleich zu den Vorjahren stark gestiegene Zahl an Geburten.
Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei.Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.