Düsseldorf. Immer erreichbar, stets online und selten ausgeschlafen: Der Arbeitnehmer wird zum Sklave des digitalen Fortschritts, warnen Forscher. Die Folge: Mehr Fehltage, geringere Produktivität.
Die Zukunft der Arbeit hat schon begonnen: Angestellte klappen fast wie Freiberufler ihren Laptop an unterschiedlichsten Orten auf, wechseln zwischen Büro und Homeoffice. Nicht nur höher Qualifizierte, auch Reinigungs- oder Pflegekräfte müssen sich immer wieder auf neue Einsatzorte einstellen und häufig auf Abruf bereitstehen.
Der veränderte Alltag, in dem viele Menschen stets erreichbar sind und sich überall mit ihrem Job konfrontiert sehen, beeinflusst ihre Gesundheit. Experten suchen nach Auswegen.
Psychische Erkrankungen stehen bei Arbeits- und Gesundheitsschutz im Mittelpunkt
Arbeiten 4.0: Diskussion über Zukunft der Arbeitswelt
Die veränderte Arbeitswelt und ihre Folgen für Mitarbeiter sowie für Unternehmen spielt eine zentrale Rolle im Programm der A+A 2015 in Düsseldorf.
Die internationale Fachmesse mit Themen wie persönlicher Schutz, betriebliche Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sowie einem begleitenden Kongress wird am heutigen Dienstag (27.) von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) eröffnet. Mit dem Dialogprozess „Arbeiten 4.0“ soll noch bis Ende 2016 eine teils öffentliche, teils fachliche Diskussion über die Zukunft der Arbeitswelt entstehen, die sich unter anderem um Schwerpunkte wie „Arbeit und Leben“ oder „Freiheit und Sicherheit“ dreht.
Früher befasste sich der Arbeits- und Gesundheitsschutz ausschließlich mit Belastungen durch Lärm, Gefahrstoffe oder das Heben und Tragen von Lasten. Heute stehen zunehmend psychische Erkrankungen im Mittelpunkt, „ein Zeichen für eine Zeitenwende“, sagt Bruno Zwingmann, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (Basi) in Sankt Augustin bei Bonn. Eine Entwicklung, die laut der Basi mit Schlagworten wie „eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Arbeiten“ zusammenhängt: Diese versprechen nicht nur eine Freiheit des Handelns – sie bedeuten häufig auch, dass die Mitarbeiter für den Erfolg eines Unternehmens mitverantwortlich gemacht werden. Immer mehr Engagement wird gefordert, was wiederum eine Herausforderung für den Arbeitsschutz bedeutet: Schnell kennen Arbeitnehmer keinen Feierabend mehr, ein enormer psychischer Druck entsteht.
Keine arbeitszeitlichen Regelungen bei ständiger Erreichbarkeit
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Was es bedeutet, immer erreichbar zu sein, hat Professorin Renate Rau vom Institut für Psychologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg untersucht: „Die technischen Möglichkeiten führen dazu, dass Mitarbeiter durch Anrufe, Mails und Kurznachrichten in den ihnen zustehenden Ruhezeiten gestört werden können. Die Klagen über daraus resultierende Beeinträchtigungen der Erholung, Stress sowie damit zusammenhängende Krankheiten häufen sich. Bisher gibt es im Gegensatz zum Bereitschaftsdienst für Rufbereitschaft oder ständige Erreichbarkeit keine arbeitszeitrechtlichen Regelungen“, sagt die Psychologin.
Dabei werde die Lebenszeit enorm beeinträchtigt, wenn jemand außerhalb seiner Arbeitszeit bereitstehen muss. „Diese Beanspruchung schlägt auch bei Partnern und Freunden auf die Stimmung.“ 60 Prozent von rund 126 Teilnehmern einer einjährigen Studie der Uni Halle-Wittenberg wünschen sich gesetzliche Richtlinien.
Immer online zu sein ist für ältere Mitarbeiter meist eine Qual
Online stets parat zu stehen – für ältere Mitarbeiter meist eine Qual, für Auszubildende normal: „Viele Jugendliche gehen mehrfach pro Stunde online, um Facebook- oder WhatsApp-Mitteilungen abzurufen oder selbst zu verfassen. Dabei werden im Gehirn ähnliche Belohnungsmechanismen wie beim Drogenkonsum aktiviert“, sagt Dr. Manfred Betz vom Institut für Gesundheitsförderung und –forschung (IGFF) im hessischen Dillenburg. Der durchschnittliche Medienkonsum betrage etwa die Hälfte der wachen Zeit am Tag. Betz ist überzeugt: „ Die durch einen solchen Lebensstil bedingten Risiken werden bislang völlig unterschätzt.“ Dabei beruft er sich auf die 2015 veröffentlichte Deutsche Azubi-Gesundheitsstudie (DAG), zu der 13 234 Auszubildende im Alter von 16 bis 25 hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes, -verhaltens und ihrer Belastungen befragt wurden. Das Ergebnis: Bereits mehr als ein Drittel ist nicht voll arbeitsfähig.
Jeder Zweite klagt über Rückenbeschwerden und jeder Fünfte über gestörten Schlaf. Für Letzteres gibt es laut Gesundheitsforscher Betz einen wichtigen Grund: „Die Mehrzahl der Jugendlichen hat ihr Smartphone am Bett. Anhand der Onlinezeiten von WhatsApp konnte gezeigt werden, dass viele nachts online gehen, obwohl sie früh am Morgen aufstehen. Dies beeinträchtigt Qualität und Quantität des Schlafes und schadet langfristig der Gesundheit.“ So gilt etwa jeder dritte Auszubildende als über- und jeder zehnte als untergewichtig.
Was Arbeitgeber tun sollten
Wissenschaftler Manfred Betz stellt als Ergebnis seiner Studien fest: „Auf den ersten Blick scheint die ständige Erreichbarkeit der Mitarbeiter Vorteile für viele Arbeitgeber zu haben. Mittel- und langfristig begünstigt dies aber eine Überlastung, die zu mehr Fehltagen und einer geringeren Produktivität führt.“
Ebenso wie Psychologin Renate Rau plädiert er für Veränderungen in Betrieben. Aus Sicht der Professorin sollte es technische Regelungen geben, gefolgt von einer Veränderung des Verhaltens. So könne man etwa Server entsprechend programmieren, dass abends geschriebene, dienstliche Mails erst zu Beginn der Arbeitszeit versendet werden. Dann gelte es, festzulegen, wer wie lange erreichbar sein müsse. Professorin Rau: „Anschließend können Mitarbeiter darin geschult werden, mehr Sensibilität für das Privatleben und die Freizeit der Kollegen zu entwickeln.“
Um den Medienkonsum von Jugendlichen einzudämmen, sollte der Arbeitgeber nach Ansicht von Manfred Betz klare Reglungen etwa zur Nutzung des Smartphones während der Arbeitszeit und bezüglich der Erreichbarkeit nach Feierabend schaffen.