Essen. Die Erosion der katholischen Kirche gefährdet längst ihre Existenz. Fraglich ist, ob Reformen helfen werden. Sucht sich der Glaube andere Wege?
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hat in dieser Woche wieder einmal seinen Mediendirektor verloren. Er war bereits der fünfte in den sieben Amtsjahren Woelkis, und sein Rücktritt steht symptomatisch dafür, dass die Kluft zwischen dem katholischen Klerus und der mehr oder minder interessierten Öffentlichkeit kaum noch zu überbrücken ist. Viel schlimmer noch: Längst wird auch der Graben zwischen Klerus und Gläubigen immer tiefer. Austrittswillige finden derzeit nur deshalb nicht aus der Kirche hinaus, weil die Wartezeit bei den termingeplagten Amtsgerichten mittlerweile Monate beträgt.
Die Erosion der Kirche findet hierzulande jenseits aller Austritts-Statistiken bereits seit Jahrzehnten vor allem im Alltag statt: Die Zeiten, da Gläubige täglich oder mindestens wöchentlich selbstverständlich in die Messe gingen und die Beichte nicht nur ablegten, sondern auch ernst nahmen, sind unwiderruflich vorbei. Zeiten, in denen Sechswochenamt noch kein Fremdwort war und die Mehrheit der katholischen Kinder noch Messdiener wurde oder Jugendliche ihren Abenteuerdrang und pubertäre Sehnsüchte in der KJG stillten, in denen Schüler nach Konfessionen getrennt unterrichtet wurden, Bischöfe per Hirtenbrief im Gottesdienst zur Wahl von CDU oder CSU drängten und Katholiken schief angesehen wurden, wenn sie eine Protestantin heirateten. Die Lockerungen auf diesem Gebiet zählen zu den eigentlichen Verdiensten der ‘68er.
Das Selbstverständnis der Kleriker hat nicht Schritt gehalten
All diese Entwicklungen haben die Bedeutung der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr marginalisiert. Damit hätte sie vielleicht leben können, sich kleiner setzen, als verschworene Gemeinschaft derjenigen, die ihre spirituellen Bedürfnisse in einer zwei Jahrtausende währenden Tradition stillen, mit einer bis heute beeindruckenden Stifterfigur und einer Theologie, die nach den blutigen Exzessen der Kreuzzüge, der Hexen- und Ketzerverfolgung inzwischen zu den vergleichsweise friedfertigeren unter den Weltreligionen zählt.
Aber das Selbstverständnis der Kleriker hat mit dem gesellschaftlichen Wandel nicht Schritt gehalten. Sonnenkönige im Talar, die sich für auserwählt und immun gegen Kritik hielten, gab es nicht nur an der Spitze des Bistums Limburg. Letztlich wird es diese Selbstherrlichkeit gewesen sein, die Priester glauben ließ, man könne sich ungestraft an Kindern vergehen oder Verbrechen im Priestergewand vertuschen.
Opfer stießen auf eine Mauer des Schweigens
Dass diese Zeiten vorbei sind, haben die katholischen Hierarchen Jahrzehnte zu spät gemerkt. Die Aufdeckung von Missbrauch-Skandalen begann in den USA schon in den 90er-Jahren, während in Deutschland Opfer, die an die Öffentlichkeit gingen, noch bis in die Zweitausender-Jahre auf eine Mauer des Schweigens stießen. Es hat ja schließlich eine ganze Weile gedauert, bis die Gesellschaft auch auf andere Missbrauchsfälle wie die an der Odenwaldschule mit Abscheu und Entsetzen reagierte. Lange Zeit schien die Kirche geradezu stolz darauf zu sein, dass in einer 2000 Jahren alten Institution die Mühlen langsamer mahlen. Jetzt, wo sie etwas zügiger werden, fängt es an, im Getriebe zu knirschen.
Kleriker, die eine so steile Lernkurve hinlegen wie der Essener Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck, der 2010 noch Homosexualität im Fernsehen als Sünde bezeichnet hat, inzwischen aber gegen die Segnung homosexueller Paare in seinem Bistum keine Einwände hat und homosexuelle Lebenspartnerschaften verteidigt, sind immer noch selten. Aber Overbeck, in dessen Bistum mehr Kirchen entweiht und sogar abgerissen wurden als in vielen anderen, hat begriffen, dass es längst ums Ganze geht, um den Bestand der katholischen Kirche, wie wir sie kennen.
Für eine neue Reformation fehlen katholische Theologen von Format
Was passiert, wenn die Kirche nicht auf die Zeichen der Zeit hört, wenn sie Reformen zu lange vor sich herschiebt, hat man vor 500 Jahren gesehen. Aber für eine neue Reformation fehlen katholische Theologen von Format; mit Hans Küng ist vor einigen Monaten der letzte gestorben, der neben dem geistlichen auch das geistige Format dazu mitbrachte, althergebrachte Dogmen mit Feuereifer in Frage zu stellen und die Evangelien neu zu predigen.
Manche der Kirchenoberen aber scheinen erst jetzt zu merken, dass ihr selbstherrlicher bis ignoranter Umgang nicht nur mit den Missbrauchsfällen, sondern auch mit dem Wunsch nach weiblicher Gleichberechtigung in der Kirche vor allem diejenigen beschämt, die früher als Schäfchen ihrer Hirten galten. Die vielen gläubigen Christen, die sich in Pfarrgemeinderäten, Chören, Seniorenkreisen, Pfadfinder-, Frauen- oder Friedensgruppen als Laien engagieren, werden durch die allzuspäte Abkehr von einem geradezu mafiösen Verhalten der führenden Repräsentanten übelst mitbeschädigt.
Wenn sich die katholische Kirche in Deutschland nun auf den „Synodalen Weg“ macht, also die Gläubigen stärker mitbestimmen lässt, sich für ein gelockertes Zölibat einsetzt und vielleicht, wer weiß, eines Tages sogar Frauen die Messe zelebrieren lassen will – bleibt es immer noch die Frage, ob der Herrschaftsapparat in Rom das mitmachen will. In diesem absehbaren Bremsprozess werden weitere Katholiken abspringen.
Was wird aus den Gläubigen, die austreten?
Was aber wird aus den Gläubigen, die der Kirche den Rücken kehren? Sie werden weiter glauben wollen, auch jenseits der römisch-katholischen Institution. Alternative Angebote gibt es längst. Die protestantische Kirche mag zwar weniger weihrauchselige Heimeligkeit und sakrale Mystik bieten, aber sie hat jene letztlich basisdemokratische Grundstruktur, in der die Gemeinden über sich selbst bestimmen und ihre Oberen wählen, wie das von Mitgliedern der römisch-katholischen Konkurrenz auch schon seit einer Weile gefordert wird. In der Alt-Katholischen Kirche dürfen Priester schon immer heiraten.
Aber es könnte auch sein, dass viele der jetzt Ausgetretenen zwar am Christentum festhalten, sich aber ihren privaten Glauben selbst zurechtbasteln, jenseits von Dogmen und theologischen Spitzfindigkeiten. Sie werden, wie schon in der Reformation, zurückkehren zum Ur-Text ihres Glaubens, werden ihn aber zu lesen und zu relativieren wissen aus der Sicht des 21. Jahrhunderts. „Es gibt keine Zukunft des Christentums in unserem Land ohne eine erneuerte Kirche“, hat Reinhard Kardinal Marx gerade erst gesagt. Wenn er sich da mal nicht vertut. Es gibt keine Zukunft der Kirche in unserem Land ohne Erneuerung – das Christentum wird sicher bestehen bleiben, so oder so.