Scheeßel. Beim Hurricane feiert sich das Publikum selbst, verkleidet als Raumfahrer oder Kakerlake. Im Kontrast zum Ballermann-Camping ensteht eine Öko-Bewegung: Zelten in Ruhe ohne Müll. Vor der Bühne liegen sich Ökos und Kakerlaken dann wieder in den Armen.
Ein aufgemalter Schnurrbart muss es schon sein. Besser noch ein Ganzkörperkostüm. Kuh mitsamt Euter oder Raumfahrer im Silber-Anzug vielleicht - je ausgefallener, desto besser. Beim Hurricane-Festival im niedersächsischen Scheeßel herrscht Ausgelassenheit zwischen Kinderkarneval und Junggesellenabschied.
Um in der Masse der rund 70.000 zumeist jungen Besuchern optisch bestehen zu können, haben die Gäste tief in die Verkleidungskiste gegriffen und suchen Aufmerksamkeit mit Indianer-Kopfschmuck oder Hüten in Brathähnchen-Optik. Eine Kakerlake hüpft über die Wiese: „Ich bin ein wunderschöner Schmetterling.“ Man möchte nicht widersprechen, der Mann klingt überzeugt.
Auffallen beim Hurricane
Selbstinszenierung wird zelebriert zwischen Zelten und Dixi-Klos. Manche Auftritte scheinen von langer Hand vorbereitet, ganze Gruppen reisen als Tier-Herden verkleidet an. Der Lohn: ein Gruppenbild mit den süßen Camp-Nachbarinnen.
Denn im Kostüm, das bewährt sich im Karneval seit Generationen, lassen sich Verstand und Anstand gleichermaßen gut ausschalten. Der Affe darf hemmungslos Mädchen umarmen und morgens um neun Uhr ein Bier aufmachen.
Grünes Zelten beim Hurricane ohne Müll und Alkoholleichen
Wer dem vorherrschenden Ballermann-Niveau auf den Campingplätzen entfliehen will, konnte sich in diesem Jahr erstmals zum „grünen Zelten“ anmelden. Die Resonanz der Besucher, die lieber auf sauberen Wiesen Bob Dylan zu Akustikbegleitung singen wollten, statt nachts um drei Uhr zu Atzenmusik um leere Bierfässer zu tanzen, ist groß.
Fans beim Hurricane
Alkoholleichen sind hier unerwünscht. Müll landet im Container, nicht auf dem Nachbarzelt. Und wer gegen die Regeln verstößt, wird auf die regulären Plätze ausquartiert. Angesichts eines drohenden Umzugs zum Spätpubertären Festival-Pöbel wollen die meisten „Green-Camper“ da kein Risiko eingehen. Die Polizei berichtet gar von „erfreulicher Sauberkeit“.
Kakerlake und Kuh Arm in Arm
Ob Öko-Camper oder Party-Truppe in Bären-Kostümen: Das äußerst adäquat zusammengestellte Line-up des Festivals bringt dann doch wieder alle Gäste auf einen Nenner. Die Kaiser Chiefs haben Appetithäppchen ihrer mit Spannung erwarteten neuen Platte mitgebracht und verteilen sie großzügig im Publikum, garniert mit bewährten Hits wie „Ruby“ oder „Never Miss a Beat“. Die Fans danken mit imposanten Chorälen.
Zu den treibenden elektronischen Klängen der Chemical Brothers aus England tanzen die Zuschauer ekstatisch bis spät in die Nacht. Und die kanadische Indie-Band Arcade Fire zaubert mit einem achtköpfigen Ensemble ein musikalisches Kunstwerk mit der akustischen Präsenz eines mittleren Orchesters auf die Bühne. Die Kalifornier von Incubus gehen mit einer ganzen Palette gefühlsschwangerer Lieder an den Start. Sänger Brandon Boyd leidet eindrucksvoll, das Publikum mit ihm. Da liegen sich sogar Kakerlake und Kuh tief berührt in den Armen.