Essen. Sein Gesicht geht in der Masse unter, seine Musik jedoch sticht heraus: Midge Ure (55), Frontmann der Synthie-Pop-Giganten Ultravox („Vienna”) hat seine Weggefährten aus den 80ern wieder rekrutiert und eine Reunion-Tour gestartet. Vor dem Konzert in Duisburg sprachen wir mit dem Schotten.
Mister Ure, Sie besitzen vier Ehrendoktor-Titel und sind von der Queen zum Ritter des "Order of the British Empire" geschlagen worden – wie muss ich Sie korrekterweise ansprechen? Doctor Ure? Sir Midge Ure?
Ure: Einfach nur Midge (lacht). Meine Titel benutze ich nur, wenn mir das Elektrizitätswerk oder sonst wer Unsummen abknöpfen will und mir Rechnungen mit absurden Forderungen schickt – dann gibt es Post vom OBE! (lacht)
Sind Sie denn nicht stolz auf Ihre Titel?
Ure: Doch, doch. Aber stolz bin ich auch auf Goldene Schallplatten, das Bestehen des Führerscheintests oder wenn mir jemand eine Email schreibt und mir sagt, was ich für tolle Musik mache. Das sind Formen der Anerkennung. Es war schon toll, in den Buckingham Palace eingeladen zu werden – auch für meine Kinder. Und in die Uni zu gehen, um sich einen Ehrentitel abzuholen, ist auch wunderbar – schließlich habe ich nie studiert. Es zeigt dir einfach, dass jemand gut über dich denkt. Deshalb weiß ich das auch zu schätzen.
Eine ordentliche Karriere ist das für jemanden, der mit 15 Jahren von der Schule gegangen ist...
Ure: Absolut! Mein Leben ist sehr interessant. Es gab eine Menge Höhen und auch viele Tiefen. Wenn man mein Leben verfilmen würde, würden es die Leute nicht für eine wahre Geschichte halten. Man kann so etwas nicht planen. Es passiert einfach.
Kommen wir zu Ihrem aktuelle Projekt: Sie sind seit über 20 Jahren nicht mehr mit Ultravox aufgetreten – warum jetzt die Wiedervereinigung?
Ure: Tja, eine gute Frage. Denn immer, wenn ich gefragt wurde, ob Ultravox mal wieder zusammenarbeiten wollen, habe ich mit einer Gegenfrage geantwortet: „Würden Sie Ihre Ex-Frau ein zweites Mal heiraten?” (lacht) Aber als wir dann zusammen an der Neuauflage unserer alten Platten gearbeitet haben, sind wir uns auch wieder näher gekommen. So ist dann die Idee zur Reunion-Tour entstanden.
Wird es auch neue Songs von Ultravox geben?
Ure: Ich glaube nicht. Das wurde zwar schon öfter ins Gespräch gebracht – allerdings nie von uns. Schlimm ist immer der Moment, wenn eine Band von früher wieder auf der Bühne steht und sagt: „So, jetzt spielen wir ein paar neue Songs”. Diese Ansage sorgt doch nur für einen Moment entsetzlicher Stille im Publikum. Das möchten wir unseren Fans lieber ersparen.
Chart-Erfolge sind Ihnen also nicht mehr wichtig?
Midge Ure & Ultravox live:
7.8. (20 Uhr), Duisburg (Theater am Marientor) – einziges Deutschland-Konzert!
Karten gibt es für 40-60 € in den Geschäftsstellen und Leserläden dieser Zeitung sowie an der Abendkasse (ab 44 €).
Ure: Nein, nicht mehr. Wenn man jung ist und im Saft steht, dann will man auch, dass die Welt hört, was man da komponiert hat. Und der Erfolg bedeutet, dass man weitermachen kann. Aber heute gibt’s eine ganz andere Situation: Leute kaufen nicht mehr so viel Musik wie früher und auf der anderen Seite kostet es auch nicht mehr so viel, neue Musik zu produzieren. Heute musst du nicht mehr teure Studios bezahlen, sondern kannst qualitativ hochwertige Platten auf deinem Laptop aufnehmen. Vor 20 Jahren braucht man noch 150.000 Pfund fürs Studio. Also musste man einfach Erfolg haben.
Ihre Videos aus der Ultravox-Zeit wie "Vienna" oder "Dancing With Tears In My Eyes" haben damals viele Bands beeinflusst. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, Filme zu drehen oder Schauspieler zu werden?
Ure: Chris Cross und ich waren damals sehr an Fotografie interessiert. Wir haben dann auch Videos für andere Künstler gedreht wie Bananarama. Und damals haben wir uns schon vorstellen können, mal einen ganzen Film zu drehen. Aber das war unglaublich naiv. Es gibt da draußen jede Menge gute Regisseure, die keine Chance bekommen, einen Film zu drehen. Der einzige Weg, einen Film zu machen, ist, ihn auch selber zu schreiben. Und dafür sind wir einfach nicht ernsthaft genug an die Sache herangegangen. Wir haben ein wenig rumgespielt, aber es ist nie so weit gekommen. Es gibt andere Leute, die das besser können. Tatsächlich haben wir mal darüber nachgedacht. Aber so ein Musik-Clip hat gerade einmal drei Minuten - in einem Film hingegen muss die Idee für mehr als eine Stunde tragen.
Sie waren bei Ultravox, bei Visage, haben Gary Moore als Gitarrist bei Thin Lizzy beerbt und Live Aid mitorganisiert. Irgendwie waren Sie in den 80ern immer dabei, wenn etwas Spannendes passierte...
Ure: Stimmt, auf dem Papier sieht das toll aus. Doch bei Thin Lizzy war ich nur einer von etwa 20 Gitarristen, die dort im Laufe der Jahre gespielt haben. Etwas Gutes hatte die Zeit allerdings: Mit dem Geld, das ich bei Thin Lizzy verdient habe, konnte ich mir einen Synthesizer kaufen und so Ultravox auf die Beine stellen.
Bei Visage denkt man zuerst an Steve Strange, bei Live Aid an Bob Geldof. Haben Sie sich bewusst immer für die zweite Reihe entschieden?
Ure: Das ist wahrscheinlich einfach mein Charakter. Aber wenn man mit Bob zusammenarbeitet, kann man sich nicht einfach das Mikro schnappen – denn meist steht er ja schon davor. Bob hat einfach die richtige Energie. Es ist wohl mein Schicksal, stets derjenige zu sein, der neben dem steht, der berühmt ist.
Stimmt es, dass Sie beinahe Gründungsmitglied der Sex Pistols geworden wären?
Ure: Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht so genau. Tatsächlich habe ich aber 1975 Malcolm McLaren kennengelernt. Der fragte mich, ob ich bei einer Band mitmachen wollte, die er gerade zusammenstellt. Ich habe dankend abgelehnt – sechs Monate später hatten die von ihm gemanagten Sex Pistols dann ihren Durchbruch.
Haben Sie die Entscheidung jemals bereut?
Ure: Nein, nie! Aber man kann manchen Dingen im Leben einfach nicht entgehen: Später habe ich mit dem Bassisten der Pistols zusammengearbeitet.
Ein Welterfolg geht auf Ihr Konto: Sie haben den Benefiz-Song „Do They Know It's Christmas?” komponiert...
Ure: Ja, auf einem winzigen Keyboard in der Küche. Beinah hätten die Batterien versagt.
Apropos Küche: Sie sollen ein passionierter Hobby-Koch sein. Sind Sie am Herd genauso kreativ wie im Studio?
Ure: In der Küche liebe ich die Abwechslung – wie in der Musik. Manchmal mache ich ein Heavy-Metal-Curry, dann wieder ein Electro-Sushi (lacht).
Was war bislang Ihre abenteuerlichste Küchen-Kreation?
Ure: Oh, ich habe mal ein orientalisches Menü kreiert mit acht oder neun verschiedenen Beilagen. Die mussten alle vorab fertig gemacht werden – für zehn oder 12 Leute. Mann, das war hart! Aber ich genieße das auch. Das hilft mir, von der Musik abzuschalten. Genauso kreativ bin ich da, aber in einem anderen Bereich.
Seit den 70er Jahren sind Sie ein Augen- und Ohrenzeuge der Musikgeschichte, haben den Wandel von Rock zu Punk und Pop miterlebt. Wagen Sie doch bitte einen Ausblick: Was für eine Musik werden wir im Jahr 2020 hören?
Ure: Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass sich Musik in Kreisform bewegt. Manchmal geht das immer schneller und schneller wie in einem Sog. Im Moment gibt es eine Bewegung, die den Sound der 80er Jahre wieder etablieren will – wie z.B. La Roux. Nach der Punkbewegung, wo eigentlich jeder, der drei Akkorde greifen konnte, Krach machen durfte, kam eine Entwicklung hin zum absoluten Gegenteil. Plötzlich gab es Elektronik, Synthesizer und Drum-Maschinen. Pop-Musik tendiert dazu, immer wieder das Gegenteil des Vorherigen aufzugreifen. Aber für das Jahr 2020 habe ich überhaupt keine Vorstellung. Vielleicht kommt Folk-Musik zurück. Denn immer dann, wenn man denkt, man habe verstanden, wie der Hase läuft, kommt etwas von hinten, mit dem man überhaupt nicht mehr gerechnet hat.