Groningen. Musikgeschäft am Tag, Musik pur in der Nacht. Während des Eurosonic-Festivals in Groningen in den Niederlanden ist das Leben eine Aneinanderreihung von Songs. Von melancholisch schön bis zum Ausflippen verrückt. Ein Streifzug am zweiten Tag.

2009 hat es eine Woche gedauert, bis das Eurosonic-Festival in Groningen ausverkauft war. In diesem Jahr waren binnen einer Stunde alle 18.000 Tickets weg. Im Vergleich zu den großen Sommer-Festivals mag das nicht besonders viel erscheinen. In Groningen, wo sie Clubs bespielen, in die teils nicht einmal hundert Leute passen, bedeutet es aber, dass die Stadt vor Musik und Menschen fast überquillt. Wer es nicht ins offizielle Line Up geschafft hat, spielt dann eben mit Miniverstärker auf der Straße. Publikum findet sich immer.

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Neben den 18.000 Fans, die überwiegend aus den Niederlanden, Deutschland und Skandinavien kommen, gibt es rund 2000 Fachbesucher. Einer von ihnen ist Stefan Reichmann, Veranstalter des Haldern-Pop-Festivals im niederrheinischen Rees. Seit 1999 ist Haldern Pop eng mit Eurosonic verbunden, viele Bands wurden hier fürs Festival entdeckt. Wie er beim Eurosonic unter rund 200 Bands genau die findet, die interessant sein könnten? “Manche Bands habe ich schon vorher auf Platte gehört. Aber es ist wichtig, sie live zu sehen”, sagt er. “Ich surfe meistens einfach durch die Stadt.” Also dann. Surfen durch den zweiten Festivaltag.

Augen zusammenkneifen bei den hohen Tönen

Zuerst zu Sophie Hungeraus der Schweiz. Sie spielt im kleinen Saal einer Musikschule. Vielleicht sind’s um die hundert Leute, die vor der Bühne stehen. Dabei ist die 26-Jährige kein echter Geheimtipp mehr. Folk, Jazz, Soul, in Schwizerdütsch, in Französisch, auf Englisch. Weil Sophie Hunger sich während des Konzerts nicht fotografieren lassen will, muss man sich eine zierliche junge Frau im schwarzen Kleid vorstellen, die die Augen zusammenkneift, wenn sie die ganz hohen Töne singt und große Augen macht, wenn sie ihren Posaunisten zum Duell herausfordert, die sich zwischen den Songs von Instrument zu Instrument schleicht wie eine Katze und den Mund, wenn’s laut wird, so weit aufreißt, als wolle sie bis zu den Alpen schreien. Ein Konzert, bei dem alle bis zum Schluss bleiben.

You! Me! Dancing!

Die Regel ist das nicht. Beim Eurosonic wird eben gesurft. Entsprechend ist die Atmosphäre auf den Straßen. Fast ein Drittel aller Einwohner der Studentenstadt Groningen ist unter 30. Solche Quoten schafft sonst nur Abu Dhabi. Und man ahnt, dass diese Stadt auch sonst nicht gerade arm ist, was Popkultur betrifft. Die Clubs werden nach dem Eurosonic sicher nicht eingerollt und bis zum nächsten Jahr verpackt.

Und so erscheint das Leben beim Eurosonic als eine Aneinanderreihung von Songs. “You! Me! Dancing!” feiern Los Campesinos!im Simplon. Zu siebt ist die Band aus Cardiff auf der Bühne und bringt mit Gitarren und Geigen den Club zum Kochen, während im Stadttheater der “Choir Of Young Believers” aus Kopenhagen mit Celli und Synthesizer wunderschöne Klänge zaubern, die ein bisschen so klingen, als hätte man Velvet Underground in die Wüste geschickt. “Everything Everything” überzeugen im Grand Theatre mir komplizierten Songstrukturen, und wenn man will, darf man sich bei der Kopfstimme auch an Radiohead erinnert fühlen.

"FM Belfast" sind wahnsinnig

Nach fünf Stunden voller Musik und gefühlten hundert Kilometern Schneestapfen (Tipp: Beim nächsten Mal ein Fahrrad leihen!) muss es eine Band erst einmal schaffen, die Menge weit nach Mitternacht zum Feiern zu bringen. FM Belfastaus Island haben damit überhaupt kein Problem. Um es kurz zu machen: Diese Gruppe ist wahnsinnig. Je länger das Konzert dauert, desto voller wird’s auf der Bühne. Irgendwann stehen alle nur noch in Turnhosen da, feiern sich und das Publikum und hüpfen zu Elektro-Indiepop der verrücktesten Sorte. “Welcome To The Jungle” von Guns’n’Roses mogelt sich zwischen die Bassschläge ebenso wie “Killing In The Name Of”. Hallo Festivalmacher! Diese Isländer hätten wir spätestens im nächsten Sommer gerne dabei.