Essen. Sie war das Gesicht und die Hoffnung ihrer aufstrebenden Partei. Doch Marina Weisband kehrte den Piraten den Rücken. Dass politische Fragen sie weiterhin beschäftigen, beweist sie mit ihrem Buch, das am Donnerstag erscheint. Darin entwirft die Vorzeige-Piratin die Utopie einer besseren Gesellschaft.
Helmut Schmidt würde Marina Weisband zum Arzt schicken. Oder gleich ins Krankenhaus. Denn das, was die ehemalige Geschäftsführerin der Piraten in ihrem Buch ausführt, sind schon keine handelsüblichen Visionen mehr. Das ist eine komplette Utopie über Staat und Gesellschaft, wie sie sein könnten, wenn... ja, wenn.
Beim "wenn" wird es in "Wir nennen es Politik" kompliziert, so wie es immer kompliziert wird, wenn man Piraten länger zuhört. Weisband lässt in ihrem Erstlingswerk, das am Donnerstag in die Buchläden kommt, ihre Fantasie spielen. Fraglich ist, ob das Ergebnis tatsächlich Ideen für eine zeitgemäße Politik sind, wie der Untertitel des 170 Seiten dicken Buches verspricht.
Weisbands Utopie ist kompliziert
Denn Weisbands Utopie verlangt vieles von Bürgern und Politikern, was heute noch abwegig erscheint: Es geht um neue Partizipationsformen, bei denen die Bürger sich durchgängig am politischen Geschehen beteiligen und nicht bloß alle vier Jahre, wenn der Staat mal wieder zu den Wahlurnen ruft. Es geht auch um einen Staat, der seine Bürger zur Beteiligung animiert, indem er Daten veröffentlicht, soweit es irgendwie möglich ist, und nicht wegschließt, solange es irgendwie vertretbar ist.
Deutschlands Vorzeige-Piratin gibt in ihrem Buch relativ wenig über sich selbst preis. Sie habe bewusst keine Autobiografie schreiben wollen, gibt sie zu. Doch der Verlag drängte sie dazu, wenigstens ein Kapitel ihrem Leben zu widmen. So schrieb sie einige Seiten über ihre Kindheit in der Ukraine und ihren Weg in die Politik. Das liest sich spannend, der Leser merkt aber, dass das Herz der Autorin nicht an diesem Teil des Werks hing.
Auf Biografie hatte Marina Weisband keine Lust
Dafür huscht sie zu sehr über die Zeit hinweg, die Stoff für zahllose Kapitel geboten hätte. Schließlich stand Weisband in der ersten Reihe, als die Piraten zu ihrem Höhenflug ansetzten. Sie war dabei, als die Piraten auf die Titelseiten aller Zeitungen katapultiert wurden, und erlebte, vor welche Schwierigkeiten der basisdemokratische Ansatz die Partei stellte.
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Für wen schreibt man ein solches Buch? Für Politiker, für Politikwissenschaftler, für politikinteressierte Menschen? Die Abgrenzung ist schwierig und sie wird zur größten Schwäche von Weisbands Werk. Denn für den interessierten Laien erklärt Weisband das politische System mit den Kontrollwirkungen zwischen den Gewalten zu wenig. Wer sich mit Exekutive, Judikative und Legislative nicht auskennt, steigt aus, ohne verstanden zu haben, wovon die Piratin träumt.
Viele Fragen bleiben offen, das macht aber nichts
Derjenige hingegen, der im politischen oder politikwissenschaftlichen Geschäft zuhause ist, fühlt sich von den stellenweise langatmigen Ausführungen Weisbands gelangweilt. Zu lange dauert es, bis die Autorin zum Punkt kommt. So ausführlich sie über die Schwächen des Status Quo referiert, so erstaunlich blass und unkonkret bleiben ihre Lösungsvorschläge. Ein bisschen mehr Liquid Feedback hier, ein bisschen weniger Machtspielchen dort - das soll die versprochene Revolution sein?
So wie die Piraten, die, seit sie auf der politischen Bühne stehen, immer wieder auf die Unvollständigkeit ihres Programms verweisen müssen, bleibt auch Marina Weisband etliche Antworten schuldig. Schließlich geht es ihr und den Piraten um mehr als nur darum, neuen Wein in alten Schläuchen anzupreisen. Sie wollen keine anderen Inhalte im gleichen System, sondern ein neues System.
Demokratie geht halt nicht schneller
Weisband fordert den Leser implizit auf, ihre unabgeschlossenen Gedanken aufzunehmen und weiterzudenken. Nicht zwangsläufig als Mitglied der Piratenpartei, sondern als aufgeklärter Bürger. Vielleicht wäre das der Punkt, an dem Weisbands Utopie beginnen könnte, Realität zu werden.
Natürlich nicht innerhalb von Tagen. Die von Weisband angesprochenen Probleme werden sich nicht einmal innerhalb von Monaten lösen lassen. Es sind Großprojekte, die unsere Gesellschaft wohl noch Jahre beschäftigen werden. Denn darin sind sich Piratin Weisband und Altkanzler Helmut Schmidt wohl einig: "Das Schneckentempo ist das normale Tempo der Demokratie."