Essen. . Mit den fatalen Auswüchsen moderner Kommunikation beschäftigt sich „Disconnect“, der erste Spielfilm des Oscar-nominierten Dokumentarfilmers Henry Alex Rubin. Er beschreibt Identitätsklau, Cyber-Mobbing, Verrat. Die Schicksale der Figuren lassen uns etwas spüren: Verlust.

Wir leben schon in einer seltsamen Welt. Da gibt es im Internet „sozial“ genannte Netzwerke, die dem User zwar immer mehr neue Freunde zuführen, ihn aber gleichzeitig auch zum gläsernen Menschen machen. Oder man chattet mit Menschen, die man nie zuvor gesehen hat und muss eines Tages feststellen, dass man Opfer eines Identitätsraubes geworden ist. Via World Wide Web kann man Menschen böse manipulieren, um sie hernach der Lächerlichkeit preiszugeben.

Mit solch fatalen Auswüchsen moderner Kommunikation beschäftigt sich „Disconnect“, der erste Spielfilm des Oscar-nominierten Dokumentarfilmers Henry Alex Rubin. Und was für ein Einstand: Drei dicht gestrickte, sich teilweise überlappende Handlungsstränge entfalten sich hier, von denen keiner den Zuschauer unberührt lässt.

Beginnen wir mit dem jungen Ehepaar Cindy (Paula Patton) und Derek (Alexander Skarsgard), das gerade sein Baby verloren hat. Während er die Trauer in sich hinein frisst und praktisch verstummt, verbringt sie ihre Tage im Netz, wo sie nach Menschen mit ähnlichem Schicksal fahndet. Vor allem ein Witwer (Michael Nyqvist) hat es ihr angetan, der sich auch persönlich mit ihr treffen will.

Doch bevor diese Begegnung stattfinden kann, sieht sich das Paar plötzlich seiner Identität beraubt – die Konten gesperrt, die persönlichen Papiere Makulatur. Ein auf Internetkriminalität spezialisierter Privatdetektiv (Frank Grillo) meint den Verursacher in eben jenem Witwer ausgemacht zu haben, in dem Cindy einen so einfühlsamen Gesprächspartner glaubte gefunden zu haben.

Plötzlich sind die Konten gesperrt

Daheim hat dieser Detektiv indes keine Ahnung davon, dass sein Sohn Jason (Colin Ford) derzeit in einen Fall von Internet-Mobbing verstrickt ist. Gemeinsam mit einem Kumpel hat er Facebook-Kontakt zu dem verhassten Mitschüler Ben aufgenommen, für den sie nun in langen Chats als ebenso hübsche wie fiktive „Jessica“ posieren. Als sie ihn durch erotische Anmache schließlich dazu bringen, vor der Webcam die Hosen herunterzulassen, ist Bens Schicksal besiegelt. Erst nach dessen Verzweiflungsschritt beginnt Vater Rich (Jason Bateman) zu ahnen, wie Welten entfernt ihm eigentlich das Leben und die Probleme seines Sohnes waren. Als erfolgreichem Anwalt war ihm das Handy immer näher.

Robert Altman und der Ensemble-Film

„Disconnect“ gehört zur Gattung der Ensemble-Filme, in denen es keinen einzelnen Helden gibt, sondern nur Rollen, die in ihrer Wichtigkeit gleichbedeutend sind.

Beim Ensemble-Film gibt es den Gruppenfilm, in dem viele gleichberechtigte Charaktere an einem Ort zusammenkommen (Beispiele: „Nashville“, „Eine Hochzeit“). Oder den Mosaikfilm, der von unabhängigen und zufälligen Überschneidungen von Handlung und Figuren bestimmt wird (Beispiel: „Short Cuts“). Alle angeführten Beispiele sind Filme von Robert Altman.

Und schließlich ist da noch die TV-Reporterin Nina (Andrea Riseborough), die von „Sex Models“ im Netz gehört hat und nun eine Webcam-Konversation mit dem 18-jährigen Kyle (Max Thieriot) führt, um etwas über die Hintermänner dieser Art von Cyber-Sex zu erfahren. Kyle wird zu einem Interview überredet, das schließlich landesweite Ausstrahlung erfährt. Schnell ist danach das FBI zur Stelle und zerstört mit seinen Aktionen die Lebensgrundlagen nicht nur dieses einen „Whistleblowers“.

Dieser Erzählstrang mag sich auf den ersten Blick mehr mit Fragen zu journalistischer Ethik beschäftigen, doch das große Thema „Vertrauensmissbrauch“ schimmert auch hier durch. Ein Vertrauen, das man Menschen schenkt, denen man nie zuvor persönlich begegnet ist. Und genau darum geht es Regisseur Rubin in seinem filmischen Triptychon: Ohne nun gleich in eine Verklärung der Vergangenheit zu verfallen, so schimmert doch durch, dass eine Zeit die bessere genannt werden muss, in der man Menschen noch kennenlernte, indem man ihnen die Hand schüttelte und man Zeit hatte, sie richtig einzuschätzen. Vielleicht erreicht uns „Disconnect“ gerade deshalb so gut, weil die Schicksale all dieser Figuren uns diesen Verlust spürbar machen.

Wertung: 4 von 5 Sterne