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Historische Kämpfe und schmerzhafte Niederlagen: Sebastian Dehnhardts sehenswerter Dokumentarfilm erzählt auf ungewohnt persönliche Weise von Kindheit und Karriere der berühmten Box-Brüder Vitali und Wladimir Klitschko.
„Boxen“, so hat es schon Bertolt Brecht formuliert, „ist gar kein Sport! Es ist ein Lebenskampf.“ Bei Vitali und Wladimir Klitschko beginnt er in der Kindheit, in einer schäbigen Wohnbaracke in der Ukraine, in der Vitali und Wladimir damals mit Eltern und Großvater leben. Zu fünft in einem Zimmer, mit Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsklo. Als der Vater, ein Offizier der Sowjetarmee, einmal eine versteckte Panzermine unter Vitalis Bett entdeckt, die der Halbwüchsige auf dem Abenteuerspielplatz Militärgelände entdeckt, setzt es Ohrfeigen.
Eine Szenerie in Sebastian Dehnhardts sehenswerter Boxer-Doku, die viel aussagt darüber, dass hier kein Karrierealbum aufgeblättert wird, sondern die bemerkenswert offene, private Geschichte zweier Helden von heute. Zwei Jahre lang hat Dehnhardt die Box-Brüder aus der Ukraine begleitet. Beim Trainieren, beim Reisen, beim Schachspielen. Zwei Jahre, in denen der Regisseur Material in Sportarchiven gesammelt hat, aber vor allem Erinnerungen, Anekdoten, Erzählungen von Trainern und den Klitschko-Eltern.
Nach diesem Film wird niemand mehr fragen, ob sich die telegenen Hünen irgendwann doch noch im Ring gegenüber stehen, um uns die neuzeitliche Version des alten Kain -und-Abel-Kampfes zu liefern. „Gott will das nicht“, sagt Vitali, der Ältere. Und Mama Klitschko schon gar nicht.
Einen Kampf ihrer Söhne, verrät Nadeschda Uljanowna Klitschko mit leisestolzem Lächeln, hat sie bis heute nicht gesehen. Aber nach der letzten Runde bekommt sie sofort einen Anruf aus der Ringecke. Nicht immer hört sie die ganze Wahrheit. Als Lennox Lewis die geplatzte Augenbraue von Vitali Klitschko blutig klopft wie eine Rouladenscheibe, bis der Kampf nach der sechsten Runde abgebrochen wird, schickt Wladimir noch auf dem Weg ins Krankenhaus beruhigende Botschaften durchs Telefon. So gewährt der Film einen Einblick in die Seele dieses global funktionierenden und medial agierenden Familienunternehmens, das sein Image doch aus alten Werten formt: Treue, Fürsorge, Verantwortung, Bruderliebe.
Es ist die Ambivalenz dieser wohlerzogenen Prügelknaben, die selbst das wenig box-interessierte Publikum anzieht. Männer wie Frauen sind fasziniert von diesen smarten Kraftpaketen, die hier vor laufender Kamera ihre Niederlagen analysieren und im nächsten Moment mit der Wucht eines Vorschlaghammers auf die Kinnlade ihres Gegners dreschen. Diese Paarung von rhetorischem Geschick und hartem linken Haken, von Intelligenz und Killerinstinkt, von Doktorhut und Eisenfaust, diese im Boxring seltene Symbiose von Kraft- und Denksport hat die Klitschkos groß gemacht.
Jugend in Tschernobyl
Wer die Karriere verfolgt, kann dabei fast den Eindruck gewinnen, dass den berühmten Box-Brüdern alles zufliegt: Weltmeistergürtel und Goldene Kameras, Frauenherzen und Steiger-Award. Die Sympathien der Deutschen sowieso. Wie süß der Geschmack des Erfolgs sein muss, wird man erst angesichts der Bitterstoffe ihrer Biographie ermessen. Im Rückblick auf Tschernobyl, wo der später an Krebs erkrankte Vater 1986 Einsätze fliegt und die Klitschko-Knaben im kontaminierten Abwasser ihre Papierschiffchen treiben lassen. Im Erinnern an das beinharte Sowjet-Training, das die Chuck-Norris-Fans mit unzähligen Blessuren, Rückschlägen, Verletzungen bezahlen. In der Reminiszenz an die erste Cola beim Klassenfeind in Florida, die den Sowjetsöhnen Ende der 80er wie eine klebrige Menschenfalle geschmeckt haben muss.
Als Boxpromoter Don King die Klitschkos 1996 unter Vertrag nehmen will, lehnen sie ab. Der findige Amerikaner hatte den Brüdern mit seinem Mozartspiel imponieren wollen und doch nur ein elektrisches Klavier angeknipst. Die Klitschkos waren empört. Kultur und Kampfsport zu beherrschen, das gilt ihnen bis heute ja als selbstverständlich. Aber man soll doch bitteschön seine Finger dafür krumm machen.