Essen. Neu im Kino: Life of Pi. Regisseur Ang Lee („Brokeback Mountain“) hat Yann Martels Roman in eine 3-D-Bilderwelt verwandelt, die verzaubert und berührt. Lange galt die Geschichte, die auf mehreren Ebenen und verschlungenen Pfaden vom Glauben, Lieben und Hoffen erzählt, als unverfilmbar.
Gibt es eine schauerlichere Vorstellung als die, allein zu sein mit einem Tiger? Vielleicht: Allein zu sein auf hoher See, mehrere Leben weit von jeder Küste entfernt? Wenn diese beiden Schreckensvisionen zu einer werden: Dann haben Sie eine Idee davon, was der junge Inder Piscine Molitor Patel durchleidet.
Yann Martels Roman „Life of Pi“ („Schiffbruch mit Tiger“) erschien im Jahr 2001, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Lektüre bewusstseinsverändernd wirkt. Lange galt die Geschichte, die auf mehreren Ebenen und verschlungenen Pfaden vom Glauben, Lieben und Hoffen erzählt, als unverfilmbar. Nun aber hat Regisseur Ang Lee („Brokeback Mountain“) das Buch in eine 3-D-Bilderwelt verwandelt, die verzaubert, berührt – und dem intellektuellen Kern des Buches dennoch gerecht wird.
Im Boot mit Richard Parker
Im indischen Pondicherry wächst der kleine Piscine Molitor Patel auf, benannt nach einem Schwimmbad, „Pi“ gerufen. Als wäre dies nicht wundersam genug, lebt Pi inmitten wilder Tiere – denn sein Vater ist Zoodirektor.
Als Pi 17 Jahre alt ist, verlässt seine Familie Indien: Mitsamt aller Zootiere besteigen sie ein Schiff gen Kanada; Gérard Depardieu hat hier einen Auftritt als Koch. Ein Sturm aber reißt das Schiff in die Tiefe. Pi gerät auf ein Rettungsboot, mit einem verletzten Zebra, einer Hyäne, einem Orang-Utan – und einem 450 Pfund schweren bengalischen Tiger, Richard Parker genannt. Er macht den mitreisenden Tieren rasch den Garaus.
Hindu, Christ und Muslim zugleich
„Richard Parker ist bei mir geblieben“, heißt es im Roman: „Ich habe ihn nie vergessen. In meinen Träumen erscheint er mir noch. Eigentlich sind es Alpträume, aber Alpträume voller Liebe.“
Glaube, Liebe – gar Hoffnung? Dem erst 17-jährigen Darsteller Suraj Sharma ist es zu verdanken, dass Pis Hoffnung nicht vollkommen abwegig und naiv scheint. Denn in seinem Blick spiegelt sich der Glaube, den Pi von Anfang an in sich trägt. Seine Eltern hat er schier verrückt gemacht mit seinem religiösen Eifer, der ihn zugleich Hindu, Christ und Muslim sein ließ, beinahe unersättlich in seiner Wissbegier. Nun hat Gott, welcher Gott auch immer, ihm einen Tiger geschickt.
Täuschend echter Computertiger
„Es war Richard Parker, durch den ich Ruhe fand. Das ist die Ironie dieser Geschichte, dass gerade der, der mich zu Anfang so sehr ängstigte, dass ich darüber fast den Verstand verlor, am Ende derjenige war, der mir innere Ruhe und Lebenssinn gab, ja ich möchte fast sagen: Harmonie.“
Der Kampf gegen den und mit dem Tiger – übrigens kein Papier-, sondern über weite Strecken ein täuschend echter Computertiger – hält Pi am Leben. Großartige Bilder begleiten die Schiffbrüchigen, das Meer leuchtet, stürmt, schillert, tost, ein Anblick, der die Zuschauer in ihren Sitzen festtackert. Wenn der hell erleuchtete Ozeandampfer sinkt, wenn Fisch-Schwärme unter Pis Floß tauchen, wenn ein Wal sich über ihm erhebt, dann deutet der leicht übersteuerte Realismus der 3-D-Technik bereits an, was ganz am Ende des Films offenkundig wird: Wir erleben hier eine Erzählung.
Kongenial hat Ang Lee Martels Idee umgesetzt, hat ebenfalls eine Rahmenhandlung geschaffen, in der ein Schriftsteller sich vom gealterten Pi Bericht erstatten lässt. Versprochen war dem Schriftsteller eine Geschichte, die ihn an Gott glauben lässt. Und er bekommt sie auch. Aber anders als gedacht. Denn an was wir glauben, so Martels Credo, das hängt allein von der Güte der Erzählung ab. In diesem Sinne ist Ang Lee ein anbetungswürdiges Meisterwerk gelungen.
Wertung: Fünf von fünf Sternen