Essen. Der Film „Inherent Vice – Natürliche Mängel“ nach einer Romanvorlage von Thomas Pynchon ist eine Hommage an das rebellische Kino der 1970er-Jahre.

In den klassischen englischen Kriminal- und Detektivromanen einer Agatha Christie oder eines Arthur Conan Doyle wurde der Wahnsinn der Welt letzten Endes immer wieder durch die Kraft kühler Logik gebannt. Mit dieser Genretradition haben die Amerikaner Dashiell Hammett und Raymond Chandler schließlich gebrochen. Sie konfrontieren ihre Privatdetektive mit labyrinthischen Verwicklungen, die sich niemals ganz auflösen lassen. So sind ihre Romane genau wie deren Verfilmungen immer auch Chroniken des Scheiterns. Ihre Helden bringen höchstens für einen Moment ein wenig Licht ins Dunkel, das aber sofort wieder erlischt.

Aber nicht einmal das gelingt Larry „Doc“ Sportello in Thomas Pynchons nun von Paul Thomas Anderson verfilmten Roman „Inherent Vice“, der in Deutschland unter dem Titel „Natürliche Mängel“ erschienen ist. Klarheit und Ordnung sind nicht Docs Sache. Der Hippie, der eigentlich nur nebenbei auch Privatdetektiv ist, verbringt sein Leben in einem permanenten Marihuana-Rausch.

Motive der großen Noir-Romane und -Filme

Pynchon und Anderson spielen virtuos mit den Stilmitteln und den Motiven der großen Noir-Romane und -Filme der 1930er und 40er Jahre. So erklingt gleich zu Beginn des Films eine hypnotische Erzählerstimme, die einen sanft, aber bestimmt in das Los Angeles des Jahres 1970 hineinzieht. Nur ist es nicht wie üblich die Stimme des Privatdetektivs, sondern die seiner guten Freundin Sortilège (Joanna Newsom). Doc (Joaquin Phoenix) wäre wahrscheinlich auch gar nicht in der Lage, seine eigene Geschichte noch einmal zu erzählen. Dafür haben die Drogen seinem Gedächtnis schon viel zu stark zugesetzt.

Eine schöne, rätselhafte Frau

Und wie in allen echten Noir-Erzählungen ist es auch in „Inherent Vice“ eine ebenso schöne wie rätselhafte Frau, die den Stein ins Rollen bringt. Shasta (Katherine Waterston) war Docs große Liebe. Dass sie ihn dann verlassen hat, macht ihm immer noch zu schaffen. Doch plötzlich steht sie wieder in seinem Wohnzimmer und erzählt ihm von ihrer neuen Liebe: dem paranoiden jüdischen Immobilien-Mogul Mickey Wolfmann (Eric Roberts), der eine Gruppe von Neonazis als Beschützer um sich geschart hat.

Nun soll Mickey von seiner Frau entführt werden, und Shasta soll ihr dabei helfen. Natürlich verspricht Doc seiner einstigen Liebe, dass er ihr helfen wird. So stolpert er in ein irrwitziges Geflecht von Verbrechen und Verschwörungen, in die das FBI genauso wie eine paramilitärische Verbindung, ein Konglomerat von Zahnärzten genauso wie Mafia-Gangster, ein Musiker (Owen Wilson) genauso wie ein ehemaliger Hollywood-Star verwickelt sind.

Im Vergleich zu „Inherent Vice“ wirken Filme wie „Die Spur des Falken“ und „Tote schlafen fest“ geradezu simpel. Der Nebel, durch den Joaquin Phoenix’ wunderbar gleichmütiger Doc die Welt betrachtet, lässt aber nicht nur die Konturen der Wirklichkeit verschwimmen.

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Er bringt den Detektiv auch näher an das wahre Wesen der Welt heran. Es geht in Paul Thomas Andersons schillernder Hommage an die 1970er Jahre und ihr rebellisches Kino gar nicht darum, jedes Geheimnis zu lüften. Sie beschwört vielmehr eine Welt herauf, in der alles mit allem verknüpft ist. Und letztendlich sind tatsächlich die Zahnärzte, die mehr als alle anderen das bürgerlich-konservative Amerika verkörpern, die größte Gefahr von allen. Ihr Geld ermöglicht es ihnen, selbst jede Perversion auszuleben, während ihr nach Außen zur Schau gestellter Konformismus, jede alternative Lebensweise im Keim erstickt.

Überwältigendes Panorama einer Ära des Umbruchs

„Inherent Vice“ ist aber nicht nur ein überwältigendes Panorama einer Ära des Umbruchs, in der die amerikanische Gesellschaft ihre Ideale an Ideologien verrät und ihre Freiheit für Wohlstand aufgegeben hat. Dieser in berauschende Orange- und Pastelltöne getauchte Hippie-Noir ist auch ein Fest für Schauspieler. Vor allem die Szenen zwischen Doc und dem von Josh Brolin gespielten Polizisten „Bigfoot“ Bjornsen werden unvergessen bleiben. Ihre beiden Darsteller könnten kaum verschiedener sein. Joaquin Phoenix spielt den ewigen Hippie mit einer Nonchalance, die einen verblüfft. Wie er alles hinnimmt und sich trotzdem immer treu bleibt, steht in einem grandiosen Kontrast zu dem Ernst und der Verbissenheit, die Brolin mit jeder Regung seines Körpers zum Ausdruck bringt.

Wertung: fünf von fünf Sternen